Junge deutschsprachige Lyrik nach der Natur
Das Naturgedicht gibt seit der Ablösung von Abbildästhetiken – „nach der Natur“ – im 18. Jahrhundert kommentierend, beschreibend, imaginierend Nachrichten von der fortschreitenden Versehrung und Verheerung der Natur. Beschwor die Romantik noch einmal die Ganzheitlichkeit des Menschen als Natur- und Kulturwesen sowie seines Naturverhältnisses, so barg die Lyrik des 20. Jahrhunderts die Natur als Fluchtraum vor schwer erträglichen Gesellschaftsverhältnissen, als Gegenbild zur Feier der Urbanität wie in der „Kolonne“-Gruppe und der „naturmagischen Schule“, bei Britting, Lehmann oder Loerke. Anknüpfend an Brechts Ästhetik nahmen in den sechziger Jahren die Lyriker der „Sächsischen Dichterschule“ um Braun, den Kirschs und Mickel Georg Maurers Topos von der „Durchgearbeiteten Landschaft“ auf, um für eine sehr kurze Hoffnungszeit ein dialektisches Verhältnis von Naturbeherrschung und Natureingebundenheit zu inaugurieren. Das kippen musste, als in den siebziger Jahren Waldsterben und Ölkrise, Club-of-Rom-Bericht und saurer Regen einen Vorgeschmack auf kommende ökologische Desaster gaben. Gedichte von Erich Arendt, Richard Pietraß, Thomas Rosenlöcher,Volker Braun,von Heinz Czechowski, Günter Kunert oder Sarah Kirsch nahmen die Hybris von Fortschrittsglauben und Naturbeherrrschung kunstfertig, warnend und mahnend ins Visier. In ihrem Schlepptau grassierte allerdings die Textsorte Öko-Kitsch, die es nachfolgenden Dichtern erst einmal gründlich vermieste, sich dieser Motivik ernsthaft anzunehmen. Wo sie es dennoch unternahm, brach sie sie unter den Auspizien des Poststrukturalismus und der Dekonstruktion: Die Gedichtbände von Gerhard Falkner, Thomas Kling, Peter Waterhause oder Michael Donhauser seit den achtziger Jahren unternahmen es, Landschaft als Textur zu schraffieren. Auch deshalb war in den neunziger Jahren der Gedichttypus des Warngedichts scheinbar verschwunden in der öffentlichen Wahrnehmung, stattdessen reüssierte eine „biologische Lyrik“ vom Schlage Grünbeins oder Urweiders, die den generellen Bedeutungsverlust der Dichtung im Diskursgeflecht durch eine Integration von Wissenschaftsdiskursen etwa der Neurobiologie zu kompensieren suchte. Anthropologie versus Geschichte, Zoologie und Neo-Darwinismus versus Sozialwissenschaften, so lautete die flaue, desgleichen raffiniert verpackte Botschaft dieses Paradigmenwechsels. Dessen scheinbar antiideologische Verve ließ sich nahtlos einbinden als Schmankerl zu dem, was neoliberale Ideologie aufzutischen pflegt: Der Mensch als Selbstverwertungsmonade, a-sozial und allein auf sich gestellt, hat sich im Dschungel des Markts zu behaupten oder unterzugehen, das soziale Tier ist bestenfalls noch unter einer betriebswirtschaftlichen Marge verwertbar.
Anfang des neuen Jahrtausends betrat eine neue Lyrikergeneration die literarische Bühne, die erste, die mit Computer und Internet aufwuchs und ergo weiß, wie man sich vernetzt, innerhalb und außerhalb des „Netzes“. Zunächst sammelte sie sich um Kleinzeitschriften wie „Lose Blätter“, „lauter niemand“, „edit“, „Die Außenseite des Elements“ oder „Intendenzen“, las in Clubs, Cafés, Kleintheatern außerhalb der Literaturhäuser. Um die Jahrtausendwende war ein Heraustreten aus einer solchen Kleinöffentlichkeit überfällig geworden. Jan Wagner und Björn Kuhligk übernahmen die Zusammenstellung einer Anthologie, die ungeachtet sich abzeichnender Ausdifferenzierung jeder der ausgewählten Stimmen ein Repräsentationsfenster von vier Gedichten eröffnen sollte. 2003 erschien „Lyrik von Jetzt. 74 Stimmen“[1] schließlich nach unglücklich verlaufenden Kooperationsversuchen mit Suhrkamp beim Kölner DuMont-Verlag: ein Buch, „das eine Generation komplett aus dem eigenen Boden gestampft hat“[2], wie Gerhard Falkner im Vorwort hervorhob. Seither haben die kräftigeren Stimmen von „Jetzt“ längst ihre ersten, zweiten oder dritten Gedichtbände in renommierten Verlagen veröffentlicht, erhalten zuhauf gut dotierte bzw. hoch angesehene Literaturpreise wie den Peter-Huchel-Preis (Uljana Wolf) oder den Leonce- und Lena-Preis (Ron Winkler, Anja Utler, Christian Schloyer). Kurzum, die „neuen Leute“[3] (Falkner) haben sich gegen, trotz oder wegen anfänglich harrscher Anwürfe von Seiten der Literaturkritik in beachtlich kurzer Zeit durchzusetzen verstanden. Einen solchen kompakten Generationsauftritt hat es das letzte Mal in der Lyrik-Welle 1963 und um 1984 mit dem „Prenzlauer Berg“ nach der Anthologie (!) „Berührung ist nur eine Randerscheinung“ in der DDR gegeben, dazwischen und danach schlug immer nur die Stunde der Einzelkämpfer. Dass es im Hype der Individualisierungsideologien in den neunzigern überhaupt zu einem solchen Kollektivauftritt kommen konnte, hat sicher komplexe Ursachen: Ähnliche Sozialisationsmomente (fast alle leben in Großstädten, haben zumeist Geisteswissenschaften studiert, leben zumeist in prekären Arbeitsverhältnissen), Netzwerk- und Teamfähigkeit im Erschließen neuer Auftritts- und Publikationsmöglichkeiten etc..
Insofern ist es eine reizvolle Herausforderung, einigen poetologischen Prämissen, die Einzelpoetiken übersteigen, etwas genauer nachzugehen. Und da das Motiv „Natur“ in der neuen Lyrik eine geradezu herausragende Rolle spielt, wie selbst eine eher träge Literaturkritik längst bemerkt hat, liegt es nahe, das Naturverhältnis in der neuen jüngeren Lyrik etwas genauer in Betracht zu ziehen.
Bereits viele Gedichtbandtitel künden von der bevorzugten Hinwendung zur Naturmotivik: „Der Tag, an dem die Möwen zweistimmig sangen“[4] (Silke Scheuermann), „Guerikes Sperling“[5] (Jan Wagner), „Wie Alpen“[6] (Steffen Popp), „Grund zu Schafen“[7] (Marion Poschmann), „Fragmentierte Gewässer“[8] (Ron Winkler). Zweimal Landschaft, dreimal Getier. Dass unter den Landschaftsbildern Meereskulissen favorisiert werden, überrascht wenig. Dass aber ganze Schafherden die Gedichte jüngerer Lyriker durchstreifen, fand ich schon ein wenig überraschend. Einige Grasungsstellen seien hier zusammengestellt, um den Schafspegel in der neuen deutschen Lyrik zu veranschaulichen: „hinter ausgiebigen Schafen lagen Premium Highlands, / die Alphalandschaft war sofort erkennbar,“[9] (Winkler); „weißgetupfte tummelplätze: ein gut aufgestelltes schaf. / die muskeln solide wie nylon, im dunkeln sind rippen, / der ausbau der haxen endet in mageren stöckchen./ aus den hufen gewinnt man knöpfe, dildos, prothesen. / darüber wummert talg und außen kraus das unterhaar. / das ist das schaf, wie es minütlich mehrwert produziert. / das ist das schaf danach auf dem weg zum superschaf.“[10] (Rinck); „meine neuen schafe ziehen in der herde an der bahn der differenz / entlang und machen mäh. Ganz gewiß, sie tragen trauer, / oder auch vielleicht ein seltenes äquivalent davon.“[11] (Rinck); „auf der Krone // sie beginnen sich wieder / das Licht einzuflößen: // Schafe, geföhnt, / Schafe, schlafbereit, / leichte / Körper durch die / der Wind zieht, mit / Ohren voll Abendrot gehen sie weiter / über den Deich, / rupfen Flächen frei, / mildern die Umstände // lockiges / letztes Tagesweiß, helle / Markierung: / Schafe / lagern im Gras, sie / beginnen den eigenen Schatten / zu stabilisieren, / parken die Wiesen an / richtiger Stelle“[12] (Poschmann); „Schäferweise // was weiß das Schaf vom Öl und vom Schweiß / und vom Talg in seinem Garn? / Was weiß es von den Flöhen? Was / vom Wolf in seinem Pelz?“[13] (Christian Flips).
Es wäre für unsereins Sekundärverwerter zu schön gewesen, nun ein medientaugliches Schlagwort, etwa die „neue Bukolik“ ausrufen zu können, oder wenigstens postmodern mit Seitenblick auf den „Matrix“-Helden Neo die Neo-Neo-Romantik als Recycling der hundert Jahre alten Neoromantik des Jugendstils ausweisen zu können. Doch leider stehen die Schafga(r)ben der jungen deutschen Lyrik verquerer in der Landschaft, als dass sie sich schlagwortwillig anbequemten. Die Indizien für eine seltsame Schaf-Sprach-Behandlung sind erdrückend: „Schafe, gefönt“, „ein gut aufgestelltes schaf“, „hinter ausgiebigen schafen“, – keine Frage, derartige Attribute passen wenig in die tradierten Vorstellungsmuster von Naturlyrik. Wir haben uns deshalb ein wenig genauer mit den Texten ins Vernehmen zu setzen, um die inhärenten Poetiken präziser erfassen zu können. Nach der Lektüre diverser Gedichtbände jüngerer Autorinnen und Autoren sind mir drei verschiedene sprachliche Näherungsweisen gegenüber der Naturmotivik aufgefallen, die Hinweise auf Tendenzen geben: Naturzeichen erstens als Signifikantenpool, zweitens als Bausteine der Deskription und drittens als Bildspender für Erhabenheit. Da der erste Aspekt auf die gegenwärtig dominierenden Spracharbeitsmodi verweist, soll er auch den Hauptteil der Aufmerksamkeit erhalten.
1. Natur als Zeichenreservoir
Marion Poschmanns 2004 erschienener Gedichtband „Grund zu Schafen“ setzt schon in der Wahl von fünf Abschnittsüberschriften deutliche Akzente: „Oden nach der Natur“[14] ist der Eingangspart mit sieben Gedichten überschrieben, die weiteren Überschriften lauten: „Et in Arcadia ego“[15], „Idyllen“[16], „Waldinneres“[17] und abschließend „Wiese sein“[18]: Reminiszenzen an die Bukolik des 17./ 18. Jahrhunderts, an die Traditionen der Oden- und Idyllendichtung im 18. Jahrhundert, die Romantik (Waldinneres) des frühen 19. und die Naturdichtung des letzten Jahrhunderts („Wiese sein“). Marion Poschmann sucht also ganz offensiv die Kontaktnahme mit der Geschichte der Gattung und insbesondere der Naturlyrik. Die Überschrift „Oden nach der Natur“ bildet zum einen die Aristotelische bzw. Horazsche Poeisis-Bestimmung (Stichwort Mimesis) nach, zugleich aber inhäriert sie eine zeitliche Relation: Die Natur ist bereits etwas Vergangenes. Ein zentrales Gedicht in der Abteilung „Nach der Natur“ trägt den geschichtssatten Titel „der deutsche Nadelbaum“[19]:
der deutsche Nadelbaum
Fieberkurven, verrußt, spitzten sich zu, der Berg
setzte Tarnkappen auf, färbte die Wipfel nach,
schwärzer ragten sie, Warndreiecke, über dir,
schärfer gingst du im Gegenlicht,ausgeschnitten, die Nacht brach schon durch dich hindurch,
Dunkelziffer der Wald, reizbare Zickzackluft,
Schatten gruben sich tief, nadelte Dämmerung
auf die Äste, ins Unterholz.Waren Bäume erlaubt, waren sie unerlaubt?
Trug man Papptannen, trug Pesthüte fort? Ich sah,
du verzweigtest dich, bogst, breitetest Arme aus.
Wind strich über die Gipfel hin.
Was sofort in der Lexik auffällt: Gefahrenheischende, geheimnisvolle oder mythische Signalworte werden mit geschichtlichen oder technizistischen Entitäten kurzgeschlossen: „Fieberkurven, verrußt“, „reizbare Zickzackluft“, „Bäume erlaubt“, „Pesthüte“. Diese Strategie bewirkt, dass relativ neutrale Komposita wie „Warndreiecke“, „Dunkelziffer“ und „Papptannen“ konnotativ stark aufgeladen werden. Zugleich werden Zeichen der Natur mit solchen der Nicht- oder Unnatur im Wechselspiel konfrontiert. Bäume erscheinen als Fieberkurven, als Warndreiecke, im dritten Versblock werden sie völlig in zivilisatorische Bestände eingebunden: „Waren Bäume erlaubt, waren sie unerlaubt? / Trug man Papptannen, trug Pesthüte fort?“ Aber: Im Wort „erlaubt“ versteckt sich vertrackt das Substantiv „Laub“, aber: In den Schlussversen des Gedichtes mündet die groteske Aufladung der Naturzeichen mit humanen Attributen in ein romantisches Bild, das nicht von ungefähr an Eichendorf erinnert: „breitetest Arme aus. / Wind strich über die Gipfel hin.“
Wohin man auch in Poschmanns Gedichtband blättert, dieses Ineinanderspielen von Nachruf auf und Beschwörung von Natur, von Traditionsanrufung und –lösung erweist sich als methodisches Prinzip. Das Eingangsgedicht des Bandes „kleines Rasenstück“[20] – der in klassischer Odenform gefasste Text ist eine Reminiszenz an Albrecht Dürers Zeichnung „Kleines Rasenstück“ – beginnt so: „100g Gras, wie Licht, das sich bewegte“. Die eingängliche Quantifizierung ruft selbstredend erst einmal eine beträchtliche Menge von „Gras“, also auch Marihuana, und zwar als Ware auf. Im Verein mit dem „Rasenstück“ kann durchaus eine Immobilie oder das Kapital des Dealers assoziiert werden, beides glaubhafte Fokussierungen im Dunstkreis der Gehirnwaschungsimperien, die den Menschen auf Verwertungsmonaden reduzieren wollen. Der weitere, tänzelnde Gedichtgang entbehrt dann aber interessanterweise nicht halluzinativer Weiterungen, die dem Genuss von „Gras“ als Drogenmetonym und zugleich der Anschauung von Gras als Natur folgen können. Dass der Text für beide Rezeptionspfade offen bleibt, beglaubigt seine Raffinesse. Schlusshin wird ein Überwältigungsgeschehen des Entgrenzt-Naturhaften inszeniert, in dem nicht vergessen wird, an das nun wahrlich tradierte „Gras des Vergessens“ zu erinnern: „Gras überwog uns schon – wuchs Gras darüber, / hob sich, senkte sich, wimmelnd, flimmernd, Gras, so / haltlos wurzelnd über dem hellen Abgrund / unserer Hirne.“ Man beachte, dass Marion Poschmann keine lyrische Ich-Gestalt als Sprech-Instanz einsetzt, sondern einen Gruppen-Sprecher „uns“ installiert, und das nachdrücklich. Marion Poschmann vermag in dieser kollektiven Anrufung die Dialektik von Naturverlust und den wuchernden „künstlichen Paradiesen“ (Baudelaire) kongenial in Verse zu setzen. Auch im „kleinen Rasenstück“ unterstützen utilitaristische Toposketten eine trocken konstatierende Verlustanzeige wie eine Sehnsucht: „Schwarzweißaufnahmen“, „ausgedehnt nach Zentimetern“, „dieser strenge Glanz, zu Halmen gefaltet“. Die Natur allerdings, sagen die letzten Verszeilen, widersetzt sich umso mehr unserem Wunsch nach Natürlichkeit. Die Entfernung ist unüberbrückbar, aber die Sehnsucht bleibt.
Nach diesen notwendigen Seitenblicken entdecken wir auch in Poschmanns Schaf-Gedicht eine in gedeckten Symbolfarben gehaltene Topos-Linie von instrumenteller Zurüstung der Natur, vermessener Welt und kapitaler Vermessenheit: „helle / Markierung: / Schafe / lagern im Gras, sie / beginnen den eigenen Schatten / zu stabilisieren, / parken die Wiesen an / richtiger Stelle.“[21] Indem die Lyrikerin diese Umrüstung der Natur aber ganz in das Naturgeschehen selbst hineinverlegt, zeitigt sie wirkkräftige Irritations- und Beunruhigungseffekte. Novalis lässt grüßen: „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“[22] …
Auf den ersten Blick scheinen auch Monika Rincks Schaf-Gedichte vergleichbaren Intentionen zu folgen. In den Komplementärgedichten „schwedenschanze gentlemen I“ und „schwedenschanze gentlemen II“ imaginiert der Text in gemessenen Daktylen die Transformation einer Ziegen- in eine Schafherde:
…
aus den strammen ziegen in den gipfeln,
in der dünnen luft der gottesnähe, wurden aufgerundet schafe,
äsend unterhalb der krummholzzone, außen wolle anstatt fell.
meine neuen schafe ziehen in der herde an der bahn der differenz
entlang und machen mäh. Ganz gewiss, sie tragen trauer,
oder auch vielleicht ein seltenes äquivalent davon. [23]
Monika Rinck kombiniert mit Vorliebe Naturzeichen mit denkbar naturfernen Diskursbrocken aus der Philosophie, Medientheorie, der Astrophysik oder Ökonomie. Zusätzlichen drive erhalten die Texte durch umgangssprachlich und/oder ironisch gefärbte Einreden. Vorgebliche Deskription erweist sich als Täuschung, phantastisches Verwandlungsspiel oder als „tour de trance“[24], wie ein anderes aufschlussreiches Gedicht aus dem Band „zum fernbleiben der umarmung“ überschrieben ist. In dem zitierten Gedicht sorgt nicht allein die Schaf-Ziege-Metamorphose für Irritation, sondern ebenso sehr die semantischen Einstreuung aus der Mathematik („aufgerundet“, „bahn der differenz“, „äquivalent“). Im Komplementärgedicht, das zugleich als Suchbild aufgebaut ist – finden Sie die Unterschiede! – , führt die in die Landschaft implantierte Bruchrechnung von Schafen und Ziegen zu aberwitzigen Lösungsvorschlägen:
(…) da sei ein ganzes rudel zahlen,
hamiltonquaternionen, n plus eins plus n plus null, mein bruder,
man staune, entdeckte schlicht, den natürlichen nistplatz der zahlen.
»bruder! lieber bruder«, sagte ich, und sah nicht, was ich schnitzte,
»du kennst doch das gewicht der tradition und weißt warum,
man manches zahlen nennt und manches nicht. sieh den senn und
sieh die schafe.« »zahlen sind’s!« so brach es aus dem bruder raus.
am berg mühten sich zähler, ins tal schaukelten nenner.
und hier und da deutlich erkennbar grase auch die substanz.
wie ich draufhin mit der empfindung eines Schwimmers,
den grüne wasserkämme hüllen, landeinwärts blickte, merkte ich,
dass aus den schafen keine zahlen, sondern wieder ziegen wurden. [25]
Zur Begriffserklärung für Nicht-Mathematiker: Hamilton-Quaternionen erlauben in vielen Fällen eine rechnerisch elegante Beschreibung des dreidimensionalen Raumes, insbesondere im Kontext von Drehungen. Es geht also um Räume und Drehungen. Viele Gedichte von Monika Rinck entwerfen einen Raum mit Naturzeichen, in dem ein Geschehen in Gang gesetzt wird, das rasch an Rasanz gewinnt und oft genug in Entgrenzungsvorgänge mündet. Die Natur als Objekt der bloßen Einfühlung hat dabei allerdings ausgedient, eher erscheint sie als kräfte- und zeichendurchschwirrtes Laboratorium, in dem denkbar verschiedene Ereignisse und Objekte aufeinanderprallen, sich verwirbeln, sich verbinden und sich wieder trennen. Aufschlussreich der Anfang des aussagerkräftigen Gedichts: „nicht haben: natur“[26]:
sind das die bäume oder ist das der regen –
die unendliche zirkularität kleiner vergehen
und sie zu zählen. Patience. Eine große –
eine imaginäre herde, die offene form
so vieler tiere und ihre bewegung auf etwas zu
…
Kreiert Monika Rinck aus der reflexhaften wie reflektierten Abständigkeit zur Natur noch „Verzückte Distanzen“[27], schlägt bei Ron Winkler die zweite Natur des Zivilisatorischen exzesshaft auf die Bilder der Natur zurück und überformt sie bis zur Unkenntlichkeit, indem sie nur noch mit der Lexik etwa aus den Bereichen Technik, Werbung, Wirtschaft denotiert wird:
SOUVENIRFAHRT
für Jan Wagner
hinter ausgiebigen Schafen lagen Premium Highlands,
die Alphalandschaft war sofort erkennbar,
das adäquate Design: tektonischer Mittelstand
in seinen besten Jahren. du sprachst
von gemeinsamem mounting, einige egozentrische Pubs
später von manischer Ernte. wer weiß,
diese Fremde war eine intransitive
Heimat – und daher gefährlich. man hielt Malzkühe,
die sich wie Malzkühe verhielten. jeder Tag
enthielt vielleicht zehn Kilogramm Schönheit.
Sonnenaufgänge wie Monsune. Niederschläge manchmal
wie Licht, manchmal wie Substantive.
um uns herum so genannte Glenn-Gould-Vögel. seltsame
Fenster. auch sie basierten auf einer Chartersprache.
und überbrückten etwas, das fehlte. beim Abschied blicktest du
ihnen merkwürdig viktorianisch nach. [28]
Nicht nur wegen der „zehn Kilogramm Schönheit“ die auf Poschmanns „100 Gramm Gras“ rekurrieren, liest sich das Gedicht fast wie eine Parodie auf Poschmann-Gedichte. Die neuen Gedichte von Winkler lassen keine von ökonomischen Verwertungsinteressen, technizistischer Einklammerung oder Freizeitindustrie unberührten Bilder der Natur mehr zu, mehr noch: Seme aus dem Naturbereich werden gnadenlos zu Metaphernspendern und Neuwortbestandteilen umfunktioniert, sie sind recht eigentlich Vehikel geworden, aber wofür? Bereits in seinem Gedichtband „Vereinzelt Passanten“ blendete der Berliner Lyriker durchgehend Landschaft als Welt und Landschaft als Text ineinander, somit potentiell unendliche Spiegelungsprozesse zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem auslösend. Eine „kleine maritime Poetik“ ist hier verräterisch aufschließend: „[…] die Brandgänse / über dir lassen sich damit nicht löschen. / sie
bleiben übrig, der Text bleibt dahinter / zurück, verbreitet das Bild eines Menschen, / der Steine aufliest als Bilder.“[29] Der Prozess der Signifikation erscheint, durchaus im Sinne Derridas, symbolisch als unabschließbar, jede Benennungsbewegung legt eine neue Benennungslücke frei, wenn etwa über die Koppelung der Signifikanten „Brandgänse“, „Text“ und „löschen“ die Signifikate der Worte „Brand“ im Sinne von brennen und „löschen“ im Sinne „einen Brand löschen“ als auch „von der Festplatte löschen“ aufgerufen werden. Allerdings lässt diese Konzentration auf Verfahrensweisen das Interesse möglicherweise alsbald erlahmen, wenn die Mechanismen durchschaut sind, zumal dann, wenn Winklers Übersprungtechnik die unfreiwillige Komik nicht nur streift, wie in dem Gedicht „High End Erfahrung“[30] aus dem Band mit dem sehr symbolischen Titel „Fragmentierte Gewässer“: Mit ironischer Verve werden die traditionellen Naturzeichen für den gnadenlosen Zuweisungs-Griff des homo technicus freigestellt. Diesem Verfremdungstrick begegnete man bereits in den achtziger Jahren vereinzelt etwa in Gedichten von Sarah Kirsch[31] und Kurt Drawert[32], aber nicht in dieser Massivität und Maßlosigkeit.
HIGH END ERFAHRUNG
der Morgen wechselte zwischen Auslieferung
von Atheismus und eiliger Katholisierung.
die Sonnenstrahlen schienen modern. sie verweigerten
eine eindeutige Botschaft. apropos:
hinter einigen Begriffen vermutete ich Bäume.
»möge er sich nicht vergoogeln –
in diesem stark nachlassenden Wald.«
nicht jede Ellipse darin war eine Lücke. aber fast.
unterwegs zertrat ein Drittes zufällig die Updates einiger Gräser.
es mochten Betaversionen gewesen sein.
die Insolvenzbewölkung am Himmel lenkte mich jedoch davon
Die Naturlyrik-Updates Ron Winklers entschlagen sich weitgehend jedes moralischen oder politischen Kalküls, verweigern in der Tat eine „eindeutige Botschaft“. Außer dass diese Updates das extreme Entfremdungs – und Kolonialisierungsverhältnis zur inneren und äußeren Natur abbilden, mit dem heute aufgewachsen wird. Winkler hat es in einem frühen Gedicht ja selbst in ziemlicher Offenheit kundgetan: „die Zukunft geht aus (uns) / von VISIONEN / zu sprechen liegt mir fremd / wohnhaft in Fatalismus / der Restposten Mensch / …“[33] Winklers „fragmentierte Gewässer“ sind deshalb eher in der Computersimulation „Second life“ anzusiedeln, umwandert von Avataren, umwandert von all den „ausgiebigen Schafe(n)“[34], dem „schaf, wie es minütlich mehrwert produziert. / das ist das schaf danach auf dem weg zum superschaf.“[35] Solche Versifizierungen ehedem bukolischer Momente haben das Klonschaf Dolly immer schon in der Hinterhand.
neben dolly liegen, als tobias mindernickel.
nein. dieses haustier ist eine lache.
diese wunde gilt nicht als verletzung. weiden ringsum
und ertragreiche felder, das alles
war witzig. basta. und tobias als schöner Soldat, oder
lief dann ein bruder in den tropisch anmutenden kulissen herum,
das hieß notfalls die herrschaft der pflanzen (2001).
keine verletzung, mit bloßem auge wurden nur immer
neue wärmebilder erstellt. [36]
Nein, dies ist kein Gedicht von Winkler, sondern dem Gedichtband „die räumung dieser parks“ von Daniel Falb entnommen. Die Art und Weise, wie Naturzeichen im Gedicht verhandelt werden, ist allemal der Winklerschen Blickweise nahe. Falb arbeitet allerdings weniger mit Kompositabildungen, Homonymen und Paraphrasen, sondern entwirft prosanah Szenarien, die es an absurder Komik selten fehlen lassen. Seine Gedichte gleichen Versuchsanordnungen, bei denen präzise aufgezeichnet wird, wie Realien mit Imitaten reagieren, Wahrnehmungssequenzen mit Bluffs.
Die Verweise in die Natur-, Politik- oder Techniksphäre entpuppen sich als „tokens“[37], als Münzen in einem Spiel performativ intendierter Kombinatorik. Sie sind nicht Gefühls- oder Meinungssurrogate, sondern hergerichtet. Wichtiger als die Semantik einzelner Motivfelder ist dem Autor offenbar, wie diese miteinander reagieren. Der Ganztext soll möglichst witzig, kalt, abgeklärt, ein bisschen zynisch, auf alle Fälle aber interessant wirken. Das klappt auch in der Regel, aber wehe dem, der die Regeln durchschaut: Dann nämlich offenbaren die Texte die Erotik von Computerprogrammen, die Auslieferung an Mechaniken des 21. Jahrhunderts, und dies eher affirmativ. Wie las ich gerade in einem freitags erscheinenden Wochenblatt:
„Der Kapitalismus treibt Raubbau mit dem Arbeiter wie mit der Natur und untergräbt damit die Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums, wusste schon Marx, der die Morgenröte dieses Systems analysiert hat. Was er nicht bedachte, war die Lernfähigkeit des Kapitalismus, der selbst den Widerstand gegen ihn zu einem Geschäft machen, der Protest in Pop, das ökologische Desaster in Photovoltaik und Bionade verwandeln kann.“[38]
Die Falb-Texte sind denn doch vielleicht eher Bionade denn Schnaps.
Noch einen Schritt weiter in der Bedeutungsablösung und Neuordnung traditioneller Naturworte geht die Wiener Lyrikerin Anja Utler: Sie erschafft in ihren Texten recht eigentlich Textgewebe, in denen Naturhaftes und Körperliches, Laut und Wort ver- und entflechtet werden.
und endlich auch: atmen wollen, taun, wie der
see aus dem: schilf klaffen, triefen, die
kiefer das: kinn aus dem schlick scheiden,
trennen, und: abschenkeln, wieder die
lippen sich auf, aus dem rohr schneiden,
schlitzen, die kehle zum gaumen hin bricht:
an dem halm sich der laut [39]
Utler nutzt wie Winkler die Doppelbedeutung von Worten, hier „Kiefer“ als Nadelbaum und als Kopfknochen, zur Bedeutungsverschlierung. Ihr Hauptaugenmerk liegt aber auf euphonischen Korrespondenzen ( schilf – kinn – schlick – lippen – schlitzen – bricht; schlick – scheiden – abschenkeln – schneiden – schlitzen) und körperbezogenen Verben (klaffen, triefen, scheiden, trennen, abschenkeln, schneiden, schlitzen). Christoph Meckel bemerkte kürzlich in einer Laudatio auf Anja Utler:
„Die Kraft und Stoßkraft ihres Atems ist identisch mit Atemnot, Atembeklemmung, Kurzatmigkeit. Das Zwanghaft erscheinende ihrer Verskonstruktion stellt zugleich ein Ereignis von Befreiung dar…Was im Vordergrund ihrer Versbauwerke als Manier erscheinen kann, gibt aus dem Hintergrund Antwort als Musik.“[40]
Und doch: Es ist eine minimalistische Wort-Musik, die Sprachstoff und Naturstoff ineinander übergehen lässt, denn alles, was nicht in Stimme und Körper integriert werden kann, fällt als Motivreserve aus. Inwieweit diese Poetik erweiterbar ist, wird sich noch zeigen müssen.
2. Naturzeichen als Bausteine der Deskription: Jan Wagner, Nico Bleutge, Hendrik Rost
Entgegen der Bevorzugung bzw. Absolutsetzung des Spiels der Signifikanten verliert eine nicht geringe Anzahl neuerer Gedichte bei aller Sorgfalt der Arbeit am Vers nicht das Interesse an den Signifikaten. Es geht ihnen um Einübungen des Sehens, um die Wiedergewinnung des Blicks auf die Natur durch Beschreibungsgenauigkeit, um das vorsichtige Destillieren von Metaphern und Bildern aus der Anschauung von Natur. „Nach der Natur“ – der Titel kommt uns bekannt vor – ist ein Gedicht des Hamburgers Hendrik Rost überschrieben, das, wenig überraschend, auch poetologisch aufschlussreich ist:
Nach der Natur
Vor ein paar Wochen waren die Gewässer
noch gefroren jetzt sind ihre Ränder eingefaßt
vom Gelb der blühenden Dotter das gegen
die anderen Farben das herrschende Graugrün
absticht ungeduldig zwängt sich alles in seine
neue Verfassung die wieder Übergang ist und
die Klumpen Laich am Teichufer sind in der
folgenden Woche schon schwarz von Larven
gewesen so groß wie ein Fingernagel und nervös
wie die Serifen einer Handschrift die immer
neu zu einer geltenden Beschreibung ansetzt
und sich dann auf ein Schildern beschränkt
die keine Geduld hat alles nach der Natur zu
zeichnen und eigentlich nur teilnehmen will [41]
Die nicht gerade originelle Idee, Naturzeichen als Schrift zu lesen und sie an poetologische Minisequenzen im Gedicht andocken zu lassen, ist wieder einmal schwer in Mode gekommen und breitet sich inflationär aus. Das Gedicht von Hendrik Rost bildet zwar keine Ausnahme, es wird aber nicht durch Signifikationsreflexionen überformt, sondern läuft unprätentiös auf ein Wünschen hinaus nach Teilhabe und Selbstbeschränkung: Nach der Natur. Überhaupt sind viele Gedichte dieses Lyrikers grundiert vom Erschrecken über den Fähigkeitsverlust, entspannte Beziehungen zu den Faszinosien der Natur noch erfahren zu können, das aber ein melancholisches Begehren sagbar macht. Deshalb fokussieren sie auf Beobachtung natürlicher Phänomene (Fledermäuse; Gewitter etc.) und das, was sie beim Sprecher irritieren, bei ihm auslösen.
Nico Bleutge, ebenfalls Hamburger und Jahrgang 1972, geht noch einen Schritt weiter: Er möchte in seinen Gedichten das reine Schauen als Wiedergewinn – vergleichbar den Bemühungen von Francis Ponge – von Sehfähigkeit ausstellen und fixiert „Sichtausschnitte“
wandernde teilchen, das sehen
war diese eine bewegung, der landschaft punkte vorzugeben
sicherungskästen, knoten, die in den fels gestemmten
pfosten aus holz, und die eingewickelten boote. das meerkehrte langsam ans ufer zurück, an den bruchstellen
sickerte luft durch die steine und senkte den druck
in den ohren. hörspuren, wärmere töne, das ein‑und ausfahren des zuges an den berghängen: dieser weiche
rhythmische schwung, der die häuser nach oben holte
das licht vor den fenstern stieg leise mit, eine zarte drehung
…[42]
Hinter dem Purismus der Deskription verbirgt sich selbstredend ein philosophisches Konzept, eine nun gar nicht so neue Utopie der reinen Benennung von „Dingen“ in der Tradition Stifters oder Ponges. Hendrik Jackson benennt als Motivation „´Entschlackung´: nicht nur von medialen Fluten und Verschmutzungen, allem Unästhetischen, dem Wust, der Spuren der Verwüstung zurücklässt, sondern auch von zuviel Sinn, den Mensch und Zeit auftürmen“[43]. Anders als Jackson sehe ich nicht, dass hierüber ein „spannendes, neues lyrisches Feld aufgebaut“[44] wird, vielmehr produzieren diese Fingerübungen in der gewollten Absenz des Gesellschaftlichen und der Kleinteiligkeit der Beschreibungsobsession vor allem eins: Langeweile, denn dieser alt-neue Reduktionismus wirkt in seiner Verfahrensweise durchsichtig, in seinen Ergebnissen schmallippig, in seinen Beschränkungen öde. Ähnliches trifft im Übrigen auch auf die meisten Erzeugnisse der sogenannten „Neuen Leipziger Schule“[45] (Lars Reiher, Lars-Arvid Brischke u.a.) zu.
Dass Beobachtungsverve und Konzentration auf wenige Einzeldenotate in Absetzung zum Diskursmischungsfuror der Zeichenfetischisten durchaus Poetizität und neue Töne beglaubigen kann, dafür stehen die Gedichte des Berliner Dichters Jan Wagner. Längst vielgepreist, erweist er sich anders als Bleutge nicht als Sklave, sondern als Meister der Beschränkung und als Virtuose des lyrischen Formenkanons. Viele seiner Gedichte sind im guten Sinne Miniaturen, aus denen poetische Funken geschlagen werden können:
MINIATUR IM FRÜHHERBST
der wachsende abgrund unter deinen sohlen.
die bäume liefern ihre früchte aus.
die kinderspiele, von den straßen gefegt,
und alle häuser in geordneter flucht –
die blätter stürmen eine luftbastille.
das leise ticken der schatten und das dunkle
auge der krähe, in dem sich die sonne fängt.
der tag, der seine kreide nimmt und geht. [46]
Unaufdringlich und beinahe beiläufig geriert Wagner aus Naturwahrnehmung elegante Bildeinfälle, wenn etwa „der tag seine kreide nimmt und geht“ und versteht es, atmosphärische Dichte zu erzeugen. Man merkt den Gedichten an, dass sie von der angelsächsischen Tradition (T. S. Eliot, Thomas, Yeats, Stevens, Frost) inspiriert wurden. Wagners wenig neutönerische Dichtung zeigt, dass das Genre Naturlyrik auch heute noch um Facetten bereichert werden kann.
3. Naturzeichen als Bildspender für Erhabenheit
Fast einen Widerpart zu den behutsamen Herantastversuchen an den Natur-Stoff stellt eine dritte Tendenz aus: Die Wiederkehr der Erhabenheit, durchaus im Kantschen Sinne. Angesichts der wahrscheinlich irreversiblen Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen durch einen außer Rand und Band geratenen Globalkapitalismus haben diese Dichter die Scheu vor dem lange Zeit verpönten hohen Ton abgelegt. Gewiss, es gab seit den späten siebziger Jahren Vorleistungen älterer Lyriker, man denke etwa an Erich Arendt, Gerhard Falkner oder Wolfgang Hilbig. Interessanterweise stehen in den Begründungszusammenhängen Klassiker wie Dante oder Klopstock ganz obenan, vor allem aber lebensweltliche Aufmerksamkeiten im Vordergrund, durchaus mit Seitenhieben auf die postmoderne Bricolage-Fraktion. Uwe Tellkamps Essay „Bei Gewitterlicht und Traum. Notizen zum Gedicht heute“[47] liest sich als leidenschaftliches Plädoyer für eine emphatische Weltzugewandtheit des Dichters als Entdecker, gegen die utilitaristische Vermüllung der Welt im Namen der Profitrate. Uwe Tellkamp:
„Unsere Welt aber ist pointenlos, weil im Fluß (das allerdings könnte die Pointe sein). Sie trägt, in der Wiederkehr der Uraltthemen Krieg, Vertreibung, Wechsel der Werte, Unsicherheit, Bedrohung, Jagd nach Glück und Geld (das geprägte Freiheit ist), in der Wiederkehr einer Märchenmechanik des Alltags, romantische, wenn nicht archaische Züge. Moderne Dichtung wird archaisch, weil gegenwartsgesättigt sein. Der moderne Dichter, wie ich ihn verstehe, ist wieder Dom-Baumeister; er ist damit, wie diejenigen, die sich aufmachten, Kap Hoorn zu umsegeln oder einen Seeweg nach Indien zu finden, zwangsläufig pathetisch – was er in Kauf nehmen kann, wenn es ihm gelingt, die grundlegenden menschlichen Empfindungen wieder zu gestalten. Er öffnet sich dem Leiden und der Freude wieder, der Hingabe; auch wird er im Grunde ein Hoffender sein und damit auf der Seite des wilden, zuckenden, melodramatischen, kitschigen, kraftvollen Lebens stehen. Er hat genug von den Trockenschwimmübungen der Theoretiker und postmoderner Lauheit, die zwar unpathetisch und ironisch gebrochen ist, aber müde, und die niemanden wirklich bewegt. Dante, einer der Admirale der Ozeanfahrerflotte, ist der große Vor-Fahre, die »Divina Commedia« sein Admiralspatent.“[48]
Einer der begabtesten Protagonisten dieser Richtung in der jungen deutschen Gegenwartslyrik ist sicher der Berliner Dichter Steffen Popp. Programmatisch nimmt sein 2004 bei kookbook erschienener Gedichtband das Erhabenheitsmotiv bei Immanuel Kant im Titel auf: „Wie Alpen“[49]. Das in Gestus und Ton an Klopstock-Oden erinnernde Gedicht „Auf diesen Morgen“[50] spart nicht an starken Aufladungen:
Wolken, die Lichtbank, ein philosophisches Wühlen
rasender Sonnenaufgang, oder
sind das schon Bomben.Unten die Welt, oben die goldenen Pfeile, der Streit
weiß, weiß, ein blöder Trichter —Satelliten lenken Sprengköpfe, Funk
den driftenden Vogelzug
unsichtbar, die Olympier.Aber dies Blau
diese reglose Ader, die dich im Leben hält
das Meer und die Klassiker
der verlorene Kontinent —
Wirbel aus Zorn, sieh den Verkünder
er wedelt einsam, grotesk in der Schönheit des Tags und der Gezeiten.
„rasender Sonnenaufgang“, „ein blöder Trichter“, „der verlorene Kontinent“, „Wirbel aus Zorn“ – hier wird mit hohem emotionalen Einsatz gesprachspielt, zumal angedeutete Bedrohungs- und Untergangsszenarien („Bomben“, „Sprengköpfe“) und Naturschönheit („Wolken, die Lichtbank“, „dies Blau“, „das Meer“, „Schönheit des Tags und der Gezeiten“) unvermittelt gegenübergestellt werden und eine Toposkette „hoher“ Gestalten („die goldenen Pfeile“, „die Olympier“, „die Klassiker“, „Verkünder“) das Gedicht durchzieht. Etwas zuviel des Guten, finde ich, der Text kann rezeptiv durchaus in die unfreiwillige Groteske kippen. Allein: Der stoische Mut, Dichtung nicht nur auf Sprache, sondern auf Welt zu beziehen und sie als Welt-Entdeckung zu justieren, verdient Respekt. Steffen Popp in einem gerade veröffentlichten Essay:
„Das winzige Segment der Welt, das wir für uns erschlossen und kulturell verdaut haben, lädt zu Erweiterungen ein; das Unternehmen Poesie liegt hier nahe als eines der Weltaneignung, eine phänomenologische Entdeckerfahrt. Es braucht nicht eben besondere Einsicht zu der Behauptung, das 99% der uns betreffenden Phänomene bislang nicht oder nur unbefriedigend sprachlich gefasst sind, zumeist lediglich sensormotorisch vorjustiert, sowohl ästhetisch als auch diskursiv unerschlossen herumliegen. […] in diesem Sinne stellt das Gedicht, in seiner Lebensferne, nichts anderes dar als eben unser Bemühen um dieses Leben: nur was wir in poetische Praxis umsetzen, kann guten Gewissens als „anthropologisch gemeistert“ gelten.“[51]
Wie die aktuelle Lyrikdiskussion in den „Bella-Triste“ Heften 17 bis 21, auf „lyrikkritik.de“ und „literaturkritik.de“ zeigt, ist die jüngere Dichtergeneration gerade dabei, die ihr zuvor attestierte „Bravheit“[52] (Michael Lentz) etwas stärker abzulegen und sich noch deutlicher auszudifferenzieren. Pathetiker, Sprachpuristen, Postmoderne und Deskriptive schärfen in Polemiken untereinander ihr poetologisches Rüstzeug. Auf Brecht freilich berufen sie sich in ihren Argumentationen nirgends. Aber vielleicht ist er doch, mit Wim Wenders, „in weiter Ferne, so nah.“
Mit Dolly im „Second life“. Junge deutschsprachige Lyrik nach der Natur, in: Sebastian Kleinschmidt (Hg.): Das Angesicht der Erde. Brechts Ästhetik der Natur. Brecht-Tage 2008. Theater der Zeit Recherchen 66, Berlin 2009.
Dr. Peter Geist (*1956 in Greifswald) ist freier Literaturwissenschaftler in Berlin, studierte Germanistik und Geschichte in Leipzig. 1996-98 war er Mitherausgeber der Literaturzeitschrift „edit“, 1997 Projektleiter der Veranstaltung „Leipziger literarischer Herbst“ und 1998-2001 Mitarbeit „Literaturforum im Brecht-Haus“. Mehrmals kam er Lehraufträgen an den Universitäten Potsdam und Halle nach und war Mitglied der Jury zum „Peter-Huchel-Preis“.
[1] Björn Kuhligk und Jan Wagner, Hrsg., Lyrik von Jetzt. 74 Stimmen. Mit einem Vorwort von Gerhard Falkner. DuMont: Köln, 2003 (zitiert als LJ).
[2] Gerhard Falkner, Vorwort, ebenda, S. 11.
[3] Ebenda, S. 12.
[4] Silke Scheuermann, Der Tag, an dem die Möwen zweisprachig sangen, Frankfurt a.M. 2001.
[5] Jan Wagner, Guerickes Sperling, Berlin 2004.
[6] Steffen Popp, Wie Alpen, Idstein 2004.
[7] Marion Poschmann, Grund zu Schafen, Frankfurt a.M. 2004.
[8] Ron Winkler, Fragmentierte Gewässer, Berlin 2007.
[9] Ron Winkler, Souvenierfahrt, in: Ron Winkler, Fragmentierte Gewässer, Berlin 2007, S. 75.
[10] Monika Rinck, das kapitale schaf, in: Monika Rinck, zum fernbleiben der umarmung, Idstein 2007, S. 36.
[11] Monika Rinck, schwedenschanze gentlemen I, in: Monika Rinck, verzückte distanzen, Springe 2004, S. 37.
[12] Marion Poschmann, auf der Krone, in: Marion Poschmann, Grund zu Schafen, a.a.O., S. 26.
[13] Christian Flips, Schäferweise, in: Lyrik von Jetzt, a.a.O., S. 71.
[14] Marion Poschmann, Grund zu Schafen, a.a.O., S. 5.
[15] Ebenda, S. 15.
[16] Ebenda, S. 27.
[17] Ebenda, S. 45.
[18] Ebenda, S. 63.
[19] Marion Poschmann, der deutsche Nadelbaum, in: Marion Poschmann, Grund zu Schafen, a.a.O., S. 9.
[20] Ebenda, S. 7.
[21] Marion Poschmann, auf der Krone, a.a.O..
[22] Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. 6 Bde. Hrsg. v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl u. Gerhard Schulz. Stuttgart 1960-1999. Bd. 1, S. 344f.
[23] Monika Rinck, schwedenschanze gentlemen I, a.a.O.
[24] Monika Rinck, tour de trance, in: Monika Rinck, zum fernbleiben der umarmung, Idstein 2007, S. 74.
[25] Monika Rinck, schwedenschanze gentlemen II, a.a.O., S. 38.
[26] Monika Rinck, nicht haben: natur, in Monika Rinck, verzückte distanzen. a.a.O., S. 20.
[27] Siehe Anmerkung 6.
[28] Ron Winkler, Souvenierfahrt, in: Ron Winkler, Fragmentierte Gewässer, a.a.O., S. 75.
[29] Ron Winkler, kleine maritime poetik, in: Ron Winkler, vereinzelt Passanten, Idstein 2004, S. 48.
[30] Ron Winkler, High End Erfahrung, in: Ron Winkler, Fragmentierte Gewässer, a.a.O., S. 71.
[31] Vgl. etwa: Sarah Kisch, Bäume, in: Sarah Kirsch, Sämtliche Gedichte, München 2005, S. 306.
[32] Kurt Drawert, Zu spät gekommen, in: Kurt Drawert, Zweite Inventur, Berlin und Wimar 1987, S. 47.
[33] Ron Winkler, Systemverlust, in: LJ, S. 305.
[34] Siehe Anmerkung 3.
[35] Siehe Anmerkung 4.
[36] Daniel Falb, neben dolly liegen, in: Daniel Falb, die räumung dieser parks, Idstein 2003, S. 63.
[37] Diesen Hinweis verdanke ich Gerhard Falkner.
[38] Josef Reindl, Wird das Saarland kommunistisch?, in: Freitag 05/08, http://www.freitag.de/2008/05/08050502.php.
[39] Anja Utler, und endlich auch: atmen wollen, taun, wie der, in: LJ, S. 191.
[40] Christoph Meckel, Sätze für Anja Utler, in: Park. Zeitschrift für neue Literatur, Nr. 62 (2007), S. 34.
[41] Hendrik Rost, Nach der Natur, in: Hendrik Rost, Fliegende Schatten, Stuttgart 1999, S. 73.
[42] Nico Bleutge, wandernde teilchen, das sehen, in: Bella Triste 17, Hildesheim 2007, S. 11.
[43] Hendrik Jackson, Konzept und Biographie, in: Bella Triste 19, Hildesheim 2007, S. 106.
[44] Ebenda, S. 107.
[45] Vgl. Hendrik Jackson, Was zu beschreiben wäre. Kleiner Metaling aus dem Lyrik-Kokon. Über den ersten Teil dieser Ausgabe, in: Bella Triste 17, a.a.O., S. 171.
[46] Jan Wagner, Miniatur im Frühherbst, in: Jan Wagner, Guerickes Sperling, a.a.O., S. 14.
[47] Uwe Tellkamp, Bei Gewitterlicht und Traum. Notizen zum Gedicht heute, in: Bella Triste 17, Hildesheim 2007, S. 201 – 208.
[48] Ebenda, S. 206.
[49] Steffen Popp, Wie Alpen, a.a.O., S. 28.
[50] Ebenda, S. 28.
[51] Steffen Popp, Poesie als Lebensform, in: Bella Triste 18, Hildesheim 2007, S. 78f.
[52] Michael Lentz, 10 Thesen zur Poesie, in: Christoph Buchwald und Norbert Hummelt, Hrsg., Jahrbuch der Lyrik 2006, Frankfurt a.M. 2005, S. 167-170.