Der Beginn einer Reise – Tobias Nazemi

Eine Annäherung an die Gegenwartslyrik
Jan Wagner – Regentonnenvariationen

Ich gebe es ja zu – so ganz frei von Vorurteilen war ich nicht. Genau gesagt: ich war voll davon. Das passt nicht zu mir, dachte ich. Das macht ein Mann in meinem Alter nicht, einer, der mit beiden Beinen im Leben steht. Einer, der schon viel erlebt hat und dem man nichts mehr vormachen kann. So einer liest keine Gedichte! Niemals. Doch ein Mann in meinem Alter hat auch gelernt, dass ein Niemals einen niemals weiterbringt. Wenn hin und wieder im Leben die Wolkendecke aufbrechen und die Sonne durchscheinen soll, dann ist ein „Warum nicht?“, ein „Ich-probier-das-mal“ keine schlechte Option. Und so habe ich mit Regentonnenvariationen zum ersten Mal nach 25 Jahren wieder einen Lyrikband in die Hand genommen. Ein Buch, dem man schon vom Cover her ansieht, dass es nicht coole Poplyrik sein will und ich darin keine gereimten Schenkelklopfer finden werde. Ok, dann mal los, dachte ich mir.

Ich blätterte rein, las die ersten Verse an und wusste sofort, dass das eine lange Reise wird. Denn ich verstand erst mal so gut wie gar nichts. Keines der wohlbedachten Worte drang zu mir durch. Auf der vergeblichen Suche nach Reim und Rhythmus stolperte ich unbeholfen durch die Seiten und hätte unter normalen Umständen dieses Werk nach kurzer Zeit wieder ins Regal gestellt, wenn da nicht diese große Aufgabe gewesen wäre. Ich hatte eine Patenschaft für dieses Buch übertragen bekommen, und man erwartete von mir eine ernsthafte Auseinandersetzung. Also löschte ich alle Vorbehalte, setzte in Sachen Lyrik alles zurück auf Anfang und machte mich auf die Reise.

buchrevier

Ich habe als allererstes für mich festgestellt, dass man Lyrik nicht so lesen darf wie einen Roman. Während bei einem guten Roman jede Seite oder im besten Falle jeder Satz Sinn macht, ist es bei der Lyrik im Allgemeinen jedes Wort und bei Jan Wagner im Speziellen jeder Buchstabe und jedes Satzzeichen. Da kann man nicht mal eben nach Feierabend zur Entspannung reinlesen. Sprachlich ist die Wagnersche Lyrik nicht schwer zugänglich, erfordert aber trotzdem höchste Konzentration. Wenn die Gedanken nur für ein paar Sekunden abschweifen, kann man gleich wieder von vorne anfangen. Es hilft sehr, wenn man sich die Gedichte laut vorliest. Das ist für normalerweise still vor sich hin lesende Menschen nicht nur ungewohnt, es erfordert auch eine neue Organisation der häuslichen Abendrituale. Denn einen lautstark Gedichte skandierenden Mann will keiner gerne neben sich auf dem Sofa sitzen haben. Da ist es gut, wenn man irgendwo noch ein Zimmerchen hat, in das man sich für diese Zwecke zurückziehen kann.

Aber wenn dann erstmal die Voraussetzungen für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem schmalen Lyrikband geschaffen sind, merkt man auch, dass es läuft. Der Zug beginnt zu rollen, die Reise kann beginnen.

Regentonnenvariationen ist ein Band mit 57 Gedichten auf knapp 100 Seiten. Es sind überwiegend kurze Gedichte mit nicht mehr als drei bis zehn Versen. Sie behandeln Pflanzen, die jeder kennt, wie Maulbeeren und Silberdisteln. Und weniger bekannte Pflanzen wie Giersch und Melde. Dann sind da noch Tiere wie ein Grottenolm und eine Eule und Gegenstände wie ein Nagel, eine Seife und Servietten. Das klingt erst mal profan und nicht gerade spannend. Auch mich hat es einiges an Überwindung gekostet, solch unspektakulären Dingen Aufmerksamkeit zu schenken. Aber irgendwann stellte ich fest, Jan Wagners Gedichte haben etwas sehr Meditatives. Es ist ein wenig wie Yoga. Man konzentriert und fokussiert sich auf Dinge, die man sonst nie beachtet hätte. Einen Muskel, eine Seife. Und man macht Fortschritte, erkennt nach und nach immer mehr.

Ich lese ein Gedicht nicht nur einmal, ich lese es mehrmals. Lese es immer wieder anders. Eine neue Betonung bringt neue Erkenntnisse. Und noch einmal von vorn. Mit jedem Lesedurchgang erkennt man mehr. Man entdeckt einen dieser unreinen Reime und dann noch einen und schließlich, oh Freude, ein ganzes Gedicht mit echten Reimen in jeder Zeile. Man wundert sich über Worttrennungen und recherchiert noch mal bei Google nach Lazarus. Man begreift, dass die Melde kein Funkgerät, sondern eine Pflanze ist. Man begreift mit jedem Lesen immer mehr und gleichzeitig stellen sich neue Fragen. Gedankenblitze, die sich assoziativ ergeben und sofort wieder verschwinden. Und doch bleibt das gute Gefühl, dass die Auseinandersetzung irgendwie Sinn macht. Die Reise beginnt, mir langsam Spaß zu machen.

Ich lese jeden Abend nur ein paar Gedichte. Eine halbe Stunde, länger kann ich mich nicht konzentrieren. Dann brauche ich wieder etwas Prosa, um mich zu erholen. Aber ich komme gut voran und stelle fest, dass ich mich sogar langsam an meine eigene Stimme gewöhnt habe. Und nicht nur das – ich fange sogar an, sie zu mögen. Ich höre mich und denke, dass da ein mir sympathischer Mann im bestem Alter feinfühlig und sensibel wunderschöne Gedichte vorliest.

Und auf einmal merke ich, dass ich das erste Etappenziel dieser Reise bereits erreicht habe. Ich bin bei mir angekommen und lerne gerade eine ganz andere Seite meiner Persönlichkeit kennen. Und das ist etwas, was ich bei all den Romanen, die ich im meinem Leben schon gelesen habe, immer wieder gesucht und nur selten (z.B. bei Murakami) gefunden habe. Einen echten Erkenntnisgewinn in Sachen Ich.

Beinahe schäme ich mich dafür, die größte Zeit meines Lebens mit einem abschätzigen Lächeln auf Lyriker wie Jan Wagner geschaut zu haben. Wie ignorant war ich eigentlich? Wie konnte ich nur meine Augen vor dieser Sprachvirtuosität verschließen? Warum nur habe ich mich selbst um diesen Literaturgenuss gebracht? Weil ich mit beiden Beinen im Leben stehen wollte? Aber jetzt ist Schluss damit. Die Beine stehen nicht mehr im Leben, sondern sind auf der Reise. Und ich weiß genau: Da wo es hingeht, gibt es noch so viel zu entdecken.


Ursprünglich publiziert im März 2015 auf Buchrevier.com.