Ernsthaftes Spielen: Oden an den Alltag – Matthew Burgess (Übers. Tobias Reußwig)

Was Studenten von Erstklässlern lernen können

Burgess-Zumari

„Der Mensch spielt als Kind […] unterhalb des Niveaus des ernsthaften Lebens.
Er kann auch über diesem Niveau spielen: Spiele der Schönheit und Heiligkeit.“
Johan Huizinga, Homo Ludens1

Wenn ich Leuten erzähle, dass ich sowohl Erstklässler als auch Studenten das Schreiben von Gedichten beibringe, sagen sie oft: „Das muss wirklich interessant sein.“ Sie nehmen ganz richtig an, dass es sich dabei um zwei völlig verschiedene Erlebnisse handelt – und in vielerlei Hinsicht haben sie recht. Die Kinder besitzen eine lebhafte Vorstellungskraft, aber ihnen fehlt ein großer Wortschatz; vielen bereiten auch die grundsätzlichen, handwerklichen Anforderungen des Schreibens Schwierigkeiten. Die Studenten haben mehr Ideen, mehr Erinnerungen und mehr Wörter, aber wenn man sie bittet, ein Gedicht zu schreiben, verkrampfen sie oder flüchten sich in Ausreden. Sie wollen, dass ihr Schreiben Sinn hat, oder sich auf eine bestimmte Art anhört, oder sie wollen eine gute Note bekommen. Die Jüngeren machen sich beim Schreiben weniger Gedanken um das Resultat. Sie bleiben im Augenblick, sie schauen, wohin der Stift sie führt. Sie lassen sich darauf ein, etwas auf der Seite entstehen zu lassen, das vorher nicht da war; sie entdecken die Wege, die ihr Geist geht; sie genießen die Reise die beginnt, wenn man ihnen erlaubt, auf dem Papier zu spielen.
Ich unterrichte die Erstklässler einmal die Woche, und wie man sich vorstellen kann, haben auch sie ihre Probleme. Einige meiner Schüler sprechen jedes Wort laut aus während sie schreiben und horchen den Lauten die entsprechenden Buchstaben ab. Andere drücken ihre Fingerspitze hinter dem gerade geschriebenen Wort auf die Seite, um Raum zwischen ihm und dem nächsten zu schaffen. Mindestens einmal pro Unterrichtsstunde wird ein Kind mit großen, bittenden Augen zu mir aufschauen und mich fragen, wie man „cheetah“, „the“ oder „friend“2 schreibt. Ich weigere mich. Ich sage ihnen, sie können es einfach so schreiben, wie sie es sprechen, und sie schauen mich an und verdrehen, ganz leicht nur, ihre Augen. Und trotzdem schreiben diese jungen Dichter Woche für Woche überraschende, lustige und fantasievolle Gedichte. Ich komme ins Klassenzimmer und sage: „Sprecht mir nach: ‚Ich bin ein Dichter / das weiß ich genau / und mein ganzes Leben / beweist es Dir auch.‘3“ Sie wiederholen es mit lauter Stimme. Ich sage: „Dreht an dem unsichtbaren Knopf hinter eurem Ohr und schaltet eure Vorstellungskraft an“, und sie gehen einen Schritt weiter. Aengus Finger werden zu aufblühenden Wimpern. Morgan schüttelt ihre Schultern wie Janet Jackson. Ich lese Gedichte laut vor und wir sprechen über sie, oft schreiben wir zusammen Gedichte an der Tafel. Dann sage ich: „Hier, nehmt euch ein Blatt Papier und schreibt ein Gedicht“, und sie tun es. Sie stürzen sich in das Abenteuer und genießen den Prozess des Schreibens. Selbst bevor sie fertig sind wollen die meisten schon zeigen, was sie geschrieben haben. Wenn ich eine gute Zeile lobe, strahlen sie vor Freude. „Wie bist du darauf gekommen?“, frage ich. „Ich habe es einfach geschrieben“, antworten sie.

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Natürlich laufen die Dinge anders in meinen Workshops am College. Ich bitte die Studenten nicht zur Einstimmung zu skandieren. Ich verteile selten buntes Papier, und bisher hat sich niemand an mein Bein geklammert. Kein Student hat jemals gesagt „Hurrah, Herr Matthew ist da!“ nachdem ich in den Seminarraum gekommen bin. Ganz im Gegenteil: Es ist reservierte Zurückhaltung, die ich zu Beginn des Semesters in ihren Gesichtern sehe, manchmal sogar echte Feindseligkeit. Aber ich habe gelernt, dem Anschein zu misstrauen. Was in ihren Gesichtern geschrieben steht, hat nichts mit ihrem inneren Wunsch zu tun, am Workshop teilzunehmen: Gedichte zu schreiben, und andere Menschen kennenzulernen, die Gedichte schreiben. Ihr Gesichtsausdruck ist vielmehr Produkt ihrer Angst. Anders als die Erstklässler haben sie die rote Tinte an der Wand gelesen: Ihr Schreiben ist beurteilt und für ungenügend befunden worden, oder sie wurden missverstanden, abgewiesen oder übersehen. Trotzdem sind sie hier, da Lyrik sie bewegt hat und sie erneut bewegt werden wollen.

Ein entscheidender Unterschied zwischen den Kindern und den Studenten ist, dass die jüngeren Dichter wirklich wissen wie man spielt. Sie sind gut darin. Ich betrete das Klassenzimmer mit einem runden, grünen Aufkleber auf meiner Stirn und nenne ihn mein „drittes Auge“, und innerhalb von wenigen Minuten sind wir alle neon-äugige Visionssuchende. Diese Fähigkeit verblasst wenn wir erwachsen werden. Ungefähr ab der vierten Klasse werden einige Schüler die Einladung ablehnen, und wenn man mit einem solchen Sticker in eine sechste Klasse läuft, muss man mit bösen Blicken rechnen. Sie sind verständlicherweise skeptischer. Denn sich auf ein Spiel einzulassen, bedeutet sich auf Unsicherheiten einzulassen. Man muss loslassen können, und es bringt das Risiko mit sich, in der gelösten und ungehemmten Spontaneität etwas Merkwürdiges zu tun oder zu sagen, etwas, worüber sich andere lustig machen könnten. Darin liegt das Risiko, und darin liegen unsere Gedichte. Wie konnte ich die Studenten dazu bringen, sich mehr wie die Kinder zu verhalten?

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Ich fing schließlich an, meinem Workshop am Brooklyn College stapelweise Erstklässlergedichte mitzubringen. Ich las ein paar besonders gute laut vor und selbst die am grimmigsten dreinblickenden Studenten mussten lächeln. Einige verkündeten, dass ich lügen müsste: das hat niemals eine sechsjährige geschrieben! Dann verteilte ich die Gedichte an die Studenten und bat sie, sie laut vorzulesen. Während die Stimmung noch anhielt, bat ich sie zu schreiben. Es funktionierte! Die spielerische Leichtigkeit der Gedichte der Kinder steckte meine Studenten an. Sie entspannten sich, nahmen alles weniger ernst und erinnerten sich, wenn auch nur für kurze Zeit, wie man spielt. In mir wuchs die Überzeugung, dass Spielen eine wirklich ernsthafte Angelegenheit ist.

Ich versuche mehr und mehr ein Umfeld in meinen Workshops zu schaffen, innerhalb dessen Spielen möglich ist. Es ist noch immer ein Experiment, das viel weitere Arbeit braucht, aber ich habe ein paar Techniken gefunden, die gut funktionieren:

Bilde so oft wie möglich einen Stuhlkreis. So einfach es klingt, der Kreis hat etwas magisches an sich. Wenn wir spielen, bilden wir einen Kreis. Jeder sieht jeden; wir sind alle dabei.
Hochfrequentes Schreiben ohne Druck. In meinen Workshops schreiben wir als Aufwärmübung oder als Übergang zwischen Diskussionen und Workshops. Wenn wir oft schreiben, wird der Erwartungsdruck gesenkt, und wenn uns eine Schreibübung nichts gibt, kommt bald die nächste. Wir lernen durch Übung, dass eine spielerische Herangehensweise unseren Widerstand überwindet.
Schreibe zusammen mit deinen Studenten, teile die Ergebnisse. Ein Kreis von Menschen, die zusammen schreiben, sorgt für ein Gefühl der Solidarität; wenn sich der Lehrer nicht beteiligt, verändert sich die Dynamik. Nach dem Ende der vorgesehenen Zeit bitte ich Freiwillige vorzulesen, und ich fordere von mir selbst, auch vorzulesen, besonders wenn mein Text merkwürdig oder inkonsistent ist. Unsere Fehler können, oft mehr noch als unsere Erfolge, unsere Studenten inspirieren.
Erschaffe einen Rahmen, in dem „Scheitern“ nicht nur interessant, sondern gewollt ist. Ich verlange niemals von Autoren, frei geschriebenes vorzulesen und ich sammle es auch nie ein. Ich erlaube ihnen mehrfach, abzuschweifen, gedanklich zu wandern oder die vollen fünf Minuten lang Unsinn zu schreiben. Wie oft kommt es vor, dass sich unsere besten Texte erst nach langem Kreisen um nichts einstellen?

Neben solchen Methoden braucht es natürlich auch Schreibaufgaben, die unsere Studenten zum Spielen animieren. Ich experimentiere mit Aufgaben, die den Prozess gegenüber dem Produkt in den Vordergrund stellen, die den Gedanken einer eindeutigen Autorschaft in Frage stellen, und die uns dazu bringen, unseren gewohnten Stil oder Schreibmodus zu verlassen und uns zwingen, achtsam zu bleiben. Eine Übung, die mich immer wieder überrascht, basiert auf einem altbekannten Klassiker: Oden an Alltagsgegenstände im Stil von Pablo Neruda. Ich nenne sie „Instant-Oden“.

1. Verteile und lese eine oder zwei von Nerudas Elementaren Oden. (Ich mag die „Ode an meinen Schädelknochen“ (Ode to my cranium) und „Ode an meinen Anzug“ (Ode to my suit) besonders.)
2. Diskutiere die Oden mit den Studenten. Bitte sie, die Alliterationen, Apostrophen, Enjambements, Metaphern und Vergleiche zu finden.
3. Sammle eine Liste mit möglichen Themen für eigene Oden (ein schnelles Brainstorming ist eine gute Methode dafür). Frage die Studenten nach gewöhnlichen Dingen, die uns im Alltag begegnen (die U-Bahn, Kaffee, etc…)
4. Verteile linierte und gelochte Blätter aus einem A4 Spiralblock4 und bitte die Studenten, den Titel einer Ode aufzuschreiben, die sie schreiben wollen würden: „Ode an ____________“. Bitte sie, keinen Namen auf das Blatt zu schreiben.
5. Sobald alle Titel geschrieben wurden, sammle die Blätter ein und mische sie.
6. Erkläre die Regeln: Du schreibst, egal welchen Titel du bekommst, ein Gedicht dazu. Schreib ungefähr fünf Minuten lang, mach, wenn überhaupt, nur kurze Pausen. Denk nicht nach – schreib einfach. Sprich mit dem Gegenstand, um den es in Deiner Ode geht, beschreibe ihn, vergleiche ihn mit anderen Dingen, baue ein wenig Alliteration und Zeilenumbrüche ein.
7. Verteil die Zettel wieder und behalte den letzten für dich selbst.
8. Warte nach der vorgegebenen Zeit noch ein wenig, bis die Studenten langsamer schreiben oder zum Ende kommen. Sag ihnen dann, dass sie noch eine Minute Zeit haben.
9. Sammle die Zettel ein (nochmal: sie sind alle anonym, keine Namen auf den Zetteln). Verteile sie nochmal für eine „Leserunde“.
10. Gib jedem eine Minute Zeit zu üben, dann bitte die Studenten das Gedicht laut vorzulesen, und zwar mit etwas bumms.
11. Sobald die Leserunde vorbei ist, bitte ich die Studenten ihre Gedichte abzutippen und sie entweder auf einem Workshop-Blog zu posten oder durch einen Emailverteiler allen anderen Studenten zukommen zu lassen.

Immer wieder habe ich voller Erstaunen gelauscht, wenn die Studenten diese nicht edierten und frisch geschriebenen Gedichte vorgetragen haben. Sie sind natürlich alles andere als perfekt, aber sie sprühen vor Energie und Witz, was sie deutlich von bisherigen Arbeiten der Studenten abgrenzt. Hier ist ein Gedicht von Danny Santarsieri als nur ein Beispiel für die großartigen Texte die sich aus dieser Übung ergeben:

Ode an das Gleichgewicht

Wo wäre ich ohne dich?
Ich fiele fiele fiele
Und wenn ich endlich wieder auf die Füße käme
Wo wäre ich dann?
Fiele fiele fiele

Aber nein, ich spreche nicht über das komplexe
Traumgebilde, fluidgefüllt, feines Tanzsystem
dass Du in meinem Ohr gebaut hast. Nein, nicht bloß das.
Ich spreche von deinen Händen – deinen Händen
die mich halten, wenn ich ein Glas zerschmeiße
und Bier auf dem Teppich verteile – du bist es, die
mich festhält, du die flüstert, mich schweigen lässt.
Du bist eine Mutter, und mit deinem Lied vom Ebenmaß
verhinderst du, dass ich noch ein Glas
gegen die Wand werfe, mir die Haare ausreiße
und ein schwarzes Loch in den Trockenbau trete.

Ja, du bist eine Mutter, und wo du nicht alles bist!
Du tanzt mit der Schwerkraft, spielst mit Mathematik. Du
lebst eingekerbt in den Spiralen der Schneckenschalen.
Du kanntest Leonardo! Und du hast mein Leben gerettet,
als ich mit meinem Bruder kämpfte auf
dem Dach. Habe ich dir
jemals gedankt, Mutter?

Warum funktioniert die Instant-Oden-Übung? Zum Teil ist es Pablo Nerudas Beispiel, aber ich denke, es spielen noch andere Faktoren hinein. Die Anonymität der Übung hat etwas damit zu tun; unseren Namen nicht auf das Blatt zu schreiben, hilft uns, den inneren Kritiker zu überwinden, der versucht, den Schreibprozess zu übernehmen. Oft beginnen wir sofort, wenn wir ein Gedicht schreiben, ihm Regeln aufzuzwingen. Das Ego macht sich bemerkbar. Aber genau an dem Punkt, an dem es sich den Studenten aufdrängen will, sammle ich die Zettel ein. Die Studenten sind überrascht und vermutlich ein wenig irritiert. Wenn ich ihnen eine Aufgabe gebe, die sie nicht selbst ausgesucht haben, gibt es weniger zu verlieren. Es ist bloß ein Spiel. Wir denken weniger an das Endprodukt und wir stecken wieder mehr in dem Prozess, wo die eigentliche Arbeit stattfindet. Die Geschwindigkeit und Spontaneität der Übung überrumpelt die Studenten; plötzlich schreiben sie mit natürlicher, plastischer und authentischer Sprache, statt mit „Ich schreibe jetzt ein Gedicht“-Steifheit. Und zu guter Letzt gibt die Übung uns die Möglichkeit, die Gedichte laut aus dem Mund eines anderen zu hören. Weil wir nicht wissen, wer die Gedichte geschrieben hat, sind wir weniger geneigt, dem Autor eine Biographie anzudichten, und achten genauer auf die Worte selbst.

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Vor einer Weile, nachdem wir unsere Instant-Oden vorgelesen hatten, bat ich meine Studenten, über die Übung nachzudenken. Wie fühlte es sich an, die Gedichte zu schreiben, und wie fühlte es sich an, sie von jemand anderem vorgelesen zu hören? Die meisten Studenten gaben positive Antworten, aber Tiffany Clarke war anderer Meinung. Sie streckte ihre Hand in die Luft und verkündete, dass es ihr missfallen hätte, ihr Gedicht von jemand anderem gelesen zu hören. Es klang nicht so, wie sie es sich gedacht hatte. Eine kleines Beben lief durch den Seminarraum: Wer hatte Tiffanys Gedicht vorgelesen? Aber niemand wusste es, also traf ein Bruchteil der Anklage jeden einzelnen. Ich sagte kurz etwas darüber, wie wichtig es ist, unsere Widerstände zu erkennen und gab dann eine Hausaufgabe auf: Suche dir einen Gegenstand und schreibe eine Ode für nächste Woche.

Zu Beginn des nächsten Treffens bat ich um Freiwillige, die ihre Ode vorlesen wollten, bevor ich sie einsammeln würde. Tiffany hob ihre Hand. Sie sagte ein paar Worte bevor sie mit ihrem Gedicht begann: Sie hatte ihrer Schwester erzählt, was letzte Woche passiert war und ihre Schwester hatte ihr gesagt, sie solle etwas lockerer werden. Wir hörten alle aufmerksam zu, als uns Tiffany eine Lektion erteilte.

Ode an das Loslassen

Ich versuche ein Gedicht zu schreiben
Mit Reimen, mit Denken: Schluss!
Aber mein Kopf ist zu voll
Verstand verstopft wie ein Abfluss
Also versuche ich etwas Yoga
Namaste, und aus.
Aber nichts ist anders, jetzt voller Energie
Und mein Verstand nimmt Reißaus
Also was mache ich jetzt?
Ich weiß, sag Wörter ohne Sinn
Leichter Lenden Lakritze Leverkusen la la la
Aber es stört mich, so planlos zu klingen
Und ich brauche eine Massage
Weil jetzt meine Schultern verspannt sind
Ich weiß nicht, warum loszulassen
so schwer sein muss
Und ich will mich entschuldigen
Aber wie erklärt man solchen Stuss?
„Vergib mir meine Steifheit“ steht nicht auf Grußkarten
Einsortiert zwischen „Hochzeit“ und „Weihnachten“
Also hoffe ich, dass meine Gelenke sich lockern werden
Und dass auch alle Steifheiten vergehen.
Wie ein Baum, der Griff eines Bogens, die Äste steif wie gezückte Pfeile und bloß,
All die wunderbaren Kräfte, lässt man alles nur
los

Als Tiffany den Text vorlas, hörten wir alle das Zittern in ihrer Stimme, und ich musste daran denken, wie mutig Studenten sein können, wenn sie ihren inneren Widerstand überwinden wollen. Als Dozenten sollten wir nicht überrascht sein, wenn sie sich zuerst sträuben, unseren Einladungen zum Spielen zu folgen, und wir sollten nicht zu schnell aufgeben oder ihr Zögern als Weigerung deuten.

* * *

Letzten Freitag schrieben meine Erstklässler Gedichte über „Gefühle“. Isaiah leuchtete, nachdem wir unser gemeinsames Gedicht an der Tafel beendet hatten: große Augen, strahlendes Gesicht und ein Kopf voller Ideen. Ich gab ihm ein Blatt Papier und er flitzte vom Teppich zum Tisch um anzufangen. Der Titel seines Gedichts: „Tapferkeit“. Aber als Isaiah das Ende seines ersten Satzes erreichte, stockte er. Ich half einem Schüler am nächsten Tisch, aber hatte ein Auge auf ihn. Er hob die Hand um seine Lehrerin zu fragen, wie man „Cheetah“ (Gepard) schreibt, und sie antwortete ihm, wie wir es immer taten; er solle es schreiben, wie es klang. Fünf Minuten später, während sich auf den anderen Zetteln Zeile an Zeile reihte, hing Isaiah immer noch fest: Er starrte ins Leere. Er hatte immer noch nur eine Zeile geschrieben.

Mach dir keine Sorgen es falsch zu schreiben. Schreib es so, wie es sich anhört. Wir können es später korrigieren.“ Er schaute mich an und ich sah, dass er darüber nachdachte, was ich gesagt hatte, aber ich hatte ihn nicht überzeugt. Ich sagte also: „Du hast diese fantastischen Ideen, die in deinem Kopf herumzucken, und sie wollen durch den Stift auf das Blatt fließen. Aber wenn du Halt machst um nachzugrübeln, wie ein Wort perfekt geschrieben wird, werden die Ideen ungeduldig und fliegen dir stattdessen aus den Ohren heraus.“ Etwas klickte – Isaiah fing wieder an zu schrieben – und als ich zum Ende der Stunde wieder zu seinem Tisch kam, war ein wundervolles Gedicht mit, ja, einigen phonetischen Schreibungen entstanden. Cheeda5. Halleluja.

Als ich in der Mittagspause seiner Lehrerin die Geschichte erzählte, erklärte sie mir sofort, dass Isaiahs Mutter streng sei. Sie kam an Familientagen zur Schule und bemühte sich sehr um seine Bildung, sah ihn aber ungern Fehler machen. In anderen Worten: Sie wies Isaiah laut auf seine Fehler hin, in dem Glauben, dass er dadurch in Zukunft weniger machen würde. Ich dachte an Isaiahs Gesicht als ich ihm erklärte, dass er sich keine Sorgen um die Rechtschreibung machen sollte. Ich konnte sehen, wie seine Augen zwischen den gegensätzlichen Meinungen hin- und hereilten. Natürlich konnte ich nicht wissen, woran er in diesem Augenblick dachte. Und trotzdem hat er mir etwas beigebracht. Er erinnerte mich daran, dass wir unser schreibendes Leben mit offenem Geist und dem Gefühl von Entdeckungen beginnen. Legen wir den Schwerpunkt zu stark auf Fakten und Korrektheit, riskieren wir, den kreativen Impuls zu verlieren. Eine Lösung besteht darin, denke ich, dass wir von klein auf die Phasen des Schreibprozesses unterscheiden: Es liegt ein großer Unterschied zwischen dem Schreiben eines Entwurfs und dem Edieren eines Entwurfs. Wir sollten die Entwurfsphase als überbordernde, erforschende, vielleicht sogar unordentliche Phase begreifen, und verstehen, dass Fehler später korrigiert werden können.

Burgess-Lesly

Irgendein Lehrer trug uns einmal auf, ein Gedicht, eine Geschichte oder einen Brief zu schrieben. Wir starrten auf die leere Seite und wagten einen Anfang. Dann gaben wir sie ab und warteten, und zuletzt bekamen wir sie zurück. (Wie sah dein Text aus, als du ihn zurückbekamst?) Ganz gleich ob wir uns an Lob oder scheinbar endlose rote Korrekturen gewöhnten, am Ende haben wir alle gelernt, dass Schreiben schwierig ist, und dass jeder Versuch zu schreiben notwendigerweise auch bedeutet, Fehler zu machen. Wenn du Glück hattest, wussten deine Lehrer, dass sogenannte Fehler unabdingbar zum Prozess des Schreibens dazugehören, dass die sich abzeichnende Idee wichtiger ist als die Fehler an der Oberfläche. Aber egal welche Erfahrungen wir machen, wir werden gehemmter, sobald wir älter werden. Wir verkrampfen jeden Tag ein wenig mehr, werden ein wenig beklommener, bis die leere Seite zuletzt mehr wie ein Gefängnis denn wie ein freies Feld erscheint. Und wir stehen am Rand mit unsicherer Miene, und warten, innerlich, auf eine Einladung zu spielen. Spielen lockert uns, erlaubt uns Bewegungen zu machen, die natürlich und authentisch und vielleicht sogar etwas merkwürdig sind, da sie jenseits unserer üblichen Gesten liegen. Und Spielen – so wie Dichtung – führt zu Immersion, zu gesteigerter Aufmerksamkeit, die sich der Ernsthaftigkeit verweigert, einer Freiheit, einem Flow.

Vielleicht sagt es Salvador Chavez (sechs Jahre alt) am besten:

Gedichte

Gedichte sind eine Orange
Rollende Knallerschlange
in der Silvesternacht
und Wassermelonen
und Explosionen
100 Feste und Karnevals
und Strände.
Gedichte sind Freiheit.
Manchmal sage Ich
zu einem Gedicht, Du bist
der König von allem
und das Gedicht sagte,
wegen Dir wurde Ich
Ideen von Dinosauriern
und Ich sagte, Du
rettest Dinge durch Veränderung
und das Gedicht sagte,
Du kannst Ich sein
indem Du glaubst
mit Deinem Herzen
und Wir sagten Beide,
Danke Dir.


 

matthew-burgess-448Kurzbiographie Matthew Burgess:

Matthew Burgess lehrt kreatives und akademisches Schreiben am Brooklyn College. Er ist seit 2001 poet in residence an verschiedenen Grundschulen in New York City (über Teachers & Writers Collaborative) und beendet gerade seine Dissertation am CUNY Graduate Center. Seine Texte wurden in mehreren Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht. Vor Kurzem wurde er vom Fund for Poetry mit einem Preis geehrt.

Er ist der Autor von Slippers for Elsewhere (Pantoffeln für Anderswo) (UpSet Press, 2014) und arbeitet an einem Kinderbuch über das Leben und Werk von E.E. Cummings mit dem Titel Enormous Smallness (Enorme Winzigkeit).

Der Beitrag erschein ursprünglich August 2013 bei der Poetry Foundation.


Ode to Balance by Danny Santarsieri

Where would I be without you?
I’d be falling falling falling
And when I finally pick myself back up
Where would I be then?
Falling falling falling

But, no, I am not talking about the intricate
dream work, fluid filled, fair dancing system
you’ve set up in my ears. No, not just that.
I’m talking about your hands—your hands
that hold me when I break a glass cup
and spill beer on a rug—it’s you who
holds me back, you that whispers, you that hushes.
You are a mother, and with your even song
you keep me from throwing
another cup against the wall, tearing at my hair,
and kicking a black hole in the drywall.

Yes, you are a mother, and my, are you everywhere!
You dance with gravity, play with math. You
live etched on the spirals of seashells.
You knew Leonardo! And you saved my life,
when I wrestled with my brother on
the roof. Did I ever
thank you, mother?

Ode an das Gleichgewicht von Danny Santarsieri

Wo wäre ich ohne dich?
Ich fiele fiele fiele
Und wenn ich endlich wieder auf die Füße käme
Wo wäre ich dann?
Fiele fiele fiele

Aber nein, ich spreche nicht über das komplexe
Traumgebilde, fluidgefüllt, feines Tanzsystem
dass Du in meinem Ohr gebaut hast. Nein, nicht bloß das.
Ich spreche von deinen Händen – deinen Händen
die mich halten, wenn ich ein Glas zerschmeiße
und Bier auf dem Teppich verteile – du bist es, die
mich festhält, du die flüstert, mich schweigen lässt.
Du bist eine Mutter, und mit deinem Lied vom Ebenmaß
verhinderst du, dass ich noch ein Glas
gegen die Wand werfe, mir die Haare ausreiße
und ein schwarzes Loch in den Trockenbau trete.

Ja, du bist eine Mutter, und wo du nicht alles bist!
Du tanzt mit der Schwerkraft, spielst mit Mathematik. Du
lebst eingekerbt in den Spiralen der Schneckenschalen.
Du kanntest Leonardo! Und du hast mein Leben gerettet,
als ich mit meinem Bruder kämpfte auf
dem Dach. Habe ich dir
jemals gedankt, Mutter?

Ode to Letting Go by Tiffany Clarke

I try to write a poem
Don’t rhyme don’t think
But there’s too much in my head
Mind clogged up like a sink
So I try some yoga
Namaste and I’m done
But nothing has changed, now energized
And my mind’s on the run
So now what do I do?
I know, say words that don’t make sense
Leaner loins lunchmeat Lakers la la la
But it irks me to sound so jumbled
And I need a massage cause
Now my shoulders are tense
I don’t know why letting go
Has to be so hard
And I want to apologize
But for this there’s no card
No “I’m sorry I’m so stiff”
One Hallmark never made
So I hope with time my joints will loosen
And this too will fade
Like a tree, branches straight as drawn arrows, the handle of a bow
All the wondrous powers of letting it all
Go

Ode an das Loslassen von Tiffany Clarke

Ich versuche ein Gedicht zu schreiben
Mit Reimen, mit Denken: Schluss!
Aber mein Kopf ist zu voll
Verstand verstopft wie ein Abfluss
Also versuche ich etwas Yoga
Namaste, und aus.
Aber nichts ist anders, jetzt voller Energie
Und mein Verstand nimmt Reißaus
Also was mache ich jetzt?
Ich weiß, sag Wörter ohne Sinn
Leichter Lenden Lakritze Leverkusen la la la
Aber es stört mich, so planlos zu klingen
Und ich brauche eine Massage
Weil jetzt meine Schultern verspannt sind
Ich weiß nicht, warum loszulassen
so schwer sein muss
Und ich will mich entschuldigen
Aber wie erklärt man solchen Stuss?
„Vergib mir meine Steifheit“ steht nicht auf Grußkarten
Einsortiert zwischen „Hochzeit“ und „Weihnachten“
Also hoffe ich, dass meine Gelenke sich lockern werden
Und dass auch alle Steifheiten vergehen.
Wie ein Baum, der Griff eines Bogens, die Äste steif wie gezückte Pfeile und bloß,
All die wunderbaren Kräfte, lässt man alles nur
los

Poetry by Salvador Chavez

Poetry is an orange
rolling firecracker
of Fourth of July
and watermelons
and explosions,
100 fairs and carnivals
and beaches.
Poetry is freedom.
Sometimes I say
to a poem, you are
the King of anything
and the poem said,
you made me be
ideas from dinosaurs
and I said, you
save things by change
and the poem said,
you can be me
by believing
with your spirit
and we both said,
Thank you.

Gedichte von Salvador Chavez

Gedichte sind eine Orange
Rollende Knallerschlange
in der Silvesternacht
und Wassermelonen
und Explosionen
100 Feste und Karnevals
und Strände.
Gedichte sind Freiheit.
Manchmal sage Ich
zu einem Gedicht, Du bist
der König von allem
und das Gedicht sagte,
wegen Dir wurde Ich
Ideen von Dinosauriern
und Ich sagte, Du
rettest Dinge durch Veränderung
und das Gedicht sagte,
Du kannst Ich sein
indem Du glaubst
mit Deinem Herzen
und Wir sagten Beide,
Danke Dir.

1 Zitiert nach der Übersetzung H. Nachods, genauer: Huizinga, Johan. Homo ludens: vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1991. Ausgelassen wurde: „zum Vergnügen und zur Erholung“, da die englische Ausgabe diesen Teil, aus unbekannten Gründen, nicht enthält.

2 Gepard, der/die/das usw…, Freund.

3 Im Original: “I‘m a poet / and I know it / I‘ve got my whole life / to show it.”

4 Anmerkung d. Übersetzers: Im Original werden long sheets of yellow legal paper empfohlen, gelbe und linierte Blätter aus billigen Noitzblöcken. Für den A4 Spiralblock habe ich mich entschieden, um den Eindruck von leicht zugänglichem Papier, das ohne große Überlegung für die Aufgabe ausgewählt wurde, zu erhalten. Es soll eben nicht um Geniestreiche auf feinem Papier gehen, sondern um Schreibübungen. Das Format long wurde gewählt, um die Studenten zum Einsatz von Zeilenumbrüchen zu motivieren. Ein entsprechendes Format, das schmaler sein müsste als die im deutschsprachigen Raum gängigen DIN A-Formate, existiert leider nicht. Kleinere DIN A Formate würden in der Höhe zu wenig Platz zum Schreiben liefern, und zurechtgeschnittene A4-Blätter widersprüchliche Signale senden. Gibt es vielleicht ein Format, das mir unbekannt ist?

5„Gebarth“.