„In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem
Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen”
-Walter Benjamin: Thesen zur Geschichte
Zur Relevanz lyrischer Praxis
Dieses Positionspapier argumentiert für die Veränderung der Lyrikvermittlung im Schulunterricht und für eine größere Sichtbarkeit von zeitgenössischen Autor_innen in Schulbüchern(1). Als Kollektiv junger Lyriker_innen(2) gehen wir davon aus, dass die Praxis des Dichtens wie auch die Diskussion darüber einen Raum generiert, der eine ganz besondere Form von Freiheit schafft, welche die Verwertungslogik von Sprache im alltäglichen Informationsaustausch reflektiert und überschreitet. In Gedichten werden Dinge und Zusammenhänge sagbar, die außerhalb von ihnen nicht formulierbar sind. In diesem Sinne bedeutet Lyrik ein Bewusstwerden über das Objekt (Sprache, Artefakte) und begünstigt eine Reflektion von Subjektivität als sehender, fühlender, denkender und herrschender Instanz. Damit ist der Lyrik die Möglichkeit multipler Perspektiven und die Offenheit für kontinuierliche Umdeutungen eingeschrieben – sie konstituiert eine Praxis der Andersheit. Lyrik öffnet einen Raum außerhalb alltagssprachlicher Zwänge, in dem die Möglichkeit zum Dissens bestehen bleibt. Lyrik ist ein Raum der Pluralität und damit ganz wesentlich ein Raum der Kritik bzw. der kritischen Praxis.
Als solchen hat ihn aber niemand von uns in der Schule kennengelernt. Was wir aus dem Schulunterricht in Erinnerung behalten haben, sind die Titel einiger kanonisierter Gedichte, die wir auswendig lernen oder nach vorgefertigten Interpretations-„Hilfen“ auseinander nehmen mussten, meist mit einer „richtigen“ Interpretation des Textes, die dann in Klausuren abgefragt wurde. Bei der Bearbeitung der Schulbücher erinnern wir uns an die Identifikation von metrischen Schemata und das Auswendiglernen von Stilmitteln, deren Mehrwert uns nicht erklärt wurde. Lyrik in der Schule bedeutete die Konfrontation mit einem Genre, das weit entfernt von allem erschien, was für uns in unserer Sprache und dem eigenem Erleben relevant war. Lyrik war uncool.
Der Grund dafür ist leicht auszumachen: Kaum eines der Gedichte, die wir im Deutschunterricht lesen oder interpretieren mussten, war weniger als vierzig Jahre alt (die allermeisten tatsächlich deutlich älter als 200 Jahre).(3) Weder ging es um Möglichkeiten der Performance, noch um die eigentliche Relevanz lyrischer Traditionen für die Gegenwart. Der historisch orientierte Ansatz des Unterrichts, der Lyrik überwiegend anhand von Texten aus der Romantik, dem Barock, gelegentlich auch aus Sturm und Drang oder dem Expressionismus behandelte, ging nicht einher mit einer Behandlung der historischen Relevanz von Dichtung für unsere Position und unser Erleben. Dies wäre z.B. durch eine Erwähnung der Verbindung zwischen deutscher Nationalidentität und romantischer Dichtung oder einer stärkeren Betonung von Exilliteratur und den Veränderungen im Verhältnis zwischen deutscher Identität und Sprache vom heutigen Standpunkt aus nachvollziehbar gewesen. Nahezu völlig abwesend war außerdem die Lyrik nach 1950 – und damit Gedichte, die andere Themen als gebrochene Herzen, Naturerlebnisse oder Krieg behandeln und Verfahren wählen, die von klassischen Formvorgaben und einer ausschließlichen Orientierung an der inhaltlichen Ebene abweichen. Dass dies in lyrischen Texten möglich ist, war für die meisten von uns eine so zufällige wie glückliche Entdeckung, die wir erst nach unserer Schulzeit machten. Sie scheint uns heute imperativ für jede sinnvolle Form der Lyrikvermittlung.
Kritische Analyse aktueller Deutschbücher
Um mit dem Positiven zu beginnen: Bei der Lektüre gegenwärtiger Schulbücher zeigt sich des öfteren die erfreuliche und überfällige Überschreitung des Lyrik-Kanons – im Sinne einer Entstaubung, wie sie in einigen Büchern z.B. mit den Texten „Über das Zerpflücken von Gedichten“ (Brecht 1935) oder „Scherenschleifer und Poeten“ (Enzensberger 1960)(4) thematisiert wird. Die Schüler_innen werden so an Gedichte herangeführt, deren Sprecher_innenhhaltung abweicht vom romantischen Klischee eines hermetischen, vom eigenen (Alltags-)Erleben weit entfernten lyrischen Ichs. Gleichzeitig besteht dieses romantische Ich in vielen anderen Publikationen nahezu ungebrochen fort.(5) Eine Auswahl von Gedichten – manchmal sogar mehrere von einem Autor –, die sprachlich und thematisch antiquiert sind (Gryphius, Goethe, Rilke), führt dazu, dass sie auf die Schüler_innen lächerlich, pathetisch oder abschreckend wirken. Hinzu kommen Aufgabenstellungen, die die „extreme Komplexität und Schwierigkeit“(6) von Gedichten schon festlegen, bevor das Gedicht selbst überhaupt gelesen wird.(7)
Natürlich kann es nicht darum gehen, die Vergangenheit des Genres und damit den historisch gewachsenen kulturellen Kontext, in dem wir uns bewegen, auszublenden. Dies würde die Schüler_innen ihrer Fähigkeit berauben, die Gegenwart einer kritischen Beurteilung zu unterziehen. Aber dafür muss diese Thematisierung der Vergangenheit in ihrer Verbindung zu unserer Gegenwart erfasst werden, da die Schüler_innen sonst erst gar nicht in die Lage versetzt werden, die Bedeutung historischer Lyrik für gegenwärtige Phänomene und das eigene Denken, Leben und Sehen zu erfassen. Eine Unterlassung dieser Zusammenführung von historischem Material und Gegenwart bewirkt, dass das wesentliche Anliegen des Schulunterrichts in den Hintergrund tritt: Junge Menschen zu einer kritischen Reflektion zu befähigen, die eine Grundlage für ihre Demokratiefähigkeit liefert. Die erste Kritik an einer Behandlung der Lyrik als isolierte Erscheinung in der Geschichtssparte des Deutschunterrichts(8) fokussiert also die ineffektive Bewusstmachung der Prägungseffekte auf eine gegenwärtige Perspektive.
Darüber hinaus ist aber auch die Behandlung der Lyrik als historisch isoliertes Phänomen ohne Anbindung an die Gegenwart unzureichend. Dies lässt sich am einfachsten am Beispiel der romantischen Lyrik beschreiben, die in allen Schulbüchern zu finden ist. Die Romantik als Formationsmoment der „deutschen“ Lyrik steht historisch und politisch im engen Zusammenhang zur Konstruktion und weiteren Entwicklung der deutschen Nationalidee, sowohl in ihrer sozialrevolutionären, als auch in ihrer konservativen Prägung.(9) Die Losung „Deutschland, Deutschland über alles“ des fortschrittlichen Romantikers Hoffmann von Fallersleben meinte zunächst einmal die Schaffung eines einheitlichen Sprach- und Kulturraums, auf dessen Basis Volkssouveränität und Nationalstaatlichkeit eingefordert werden konnten. Zugleich ging dieser Vorgang mit einer Absteckung des deutschen Nationalcharakters einher, in dem alle Abscheulichkeiten des „deutschen Sonderweges“ bereits versammelt waren: der „Hass gegen dies verworfene Franzosengeschlecht“ und die an das Volk Israel gerichteten Zeilen: „Du raubtest unter unseren Füßen / Uns unser deutsches Vaterland […] Auf Wucher, Lug und Trug bedacht. […] Willst du von diesem Gott nicht lassen, / Nie öffne Deutschland dir sein Ohr“, entstammen der Feder desselben Autors wie die alte und neue Nationalhymne.
Die antisemitische Unterscheidung von Nationen als kulturschaffend, kulturerhaltend und kulturzerstörend in ihrer Fassung als Widerspruch von deutscher Kulturnation und westlicher Zivilisation – und damit ein deutsches Spezifikum des Konservatismus, wie auch der imperialistischen Legitimationsrhetorik bis weit ins 20. Jahrhundert hinein – wurden maßgeblich in der romantischen Lyrik entwickelt. Dies ist insofern hochrelevant, weil der Bezug auf die deutsche Sprache heute immer noch als identitätsstiftendes Moment wirksam ist und propagiert wird. Ein aktuelles Beispiel bieten die Einbürgerungstests und erzwungene Sprachschulung für Einwanderer ebenso wie der Slogan des „Landes der Dichter und Denker“ als Aufhänger positiver Nationalidentifizierung (dem die nahezu völlige Marginalisierung der realexistierenden Dichterinnen und Dichter eigentümlich entgegensteht). Der Bezug auf die „Sprache von Goethe und Schiller“, aber auch auf die Heinrich Heines, zählt zu den formativen Elementen einer auf die Sprache als Vergemeinschaftungsmittel orientierten deutschen Nationalidentität. Auch und gerade wenn man einer solchen Vorstellung positiv gegenübersteht, muss dieser spezifisch deutsche Komplex von Dichtung und Politik bei einer Behandlung romantischer Lyrik in seiner ganzen Widersprüchlichkeit zur Sprache kommen.
Ein anderes Beispiel ist die Lyrik des Expressionismus, welche als eine besondere, weil nur in Deutschland zu findende Form der ihrem Ursprung nach europäischen Bewegungen von Futurismus und moderner Avantgarde zu kontextualisieren wäre. Eine an die Realitäten von Skype und MTV, Erasmus und RyanAir angepasste Vorstellung des Deutschen sollte auch rückwirkend hervorkehren, wie kreative Impulse in der Vergangenheit oft jenseits von Ländergrenzen verkehrten und in hybriden, semi-nationalen Räumen beheimatet waren: Das Pragerdeutsch des Juden Kafka, der von Widersprüchen durchzogene Vielvölkerstaat Kakaniens in Musils Mann ohne Eigenschaften, das Zusammentreffen internationaler Avantgarden im Berlin der Weimarer Zeit, die Reisen und Vertreibungen von Heine bis Thomas Mann oder die zugleich regionale und kosmopolitische Mundartdichtung Ernst Jandls sind hier moderne Beispiele für eine Bewegung, die schon weit vor der Entlehnung unzähliger deutscher Wendungen aus den Werken Shakespeares beginnt. Um Johann Wolfgang von Goethe zu zitieren: „National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit und jeder muss jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen“.(10)
Ein ähnliches Update erfordert die Thematisierung von Medialität, welche in den Büchern weitgehend ausgeblendet wird. Es ist eine zur Binsenweisheit gewordene Tatsache, dass die heute heranwachsenden Generationen mit dem Internet und allgemein verfügbarer Telekommunikation durch Medien sozialisiert werden, die bereits gegenüber unserer Schulzeit ein völlig revolutioniertes Verhältnis zu Texten mit sich führen. Dies betrifft sowohl deren Verbindung mit anderen Medienformen, wie Bildern und Videos, wie auch die noch viel stärkere Informalisierung und Konversationalisierung des alltäglichen Schreibens (von SMS, Chat, Facebook-Nachrichten, Emails, etc.). Nur wenn diese Entwicklung als weitere Demokratisierung des Schreibens begriffen wird und in ihrer ästhetischen Bedeutung auch für die Lyrik ernstgenommen wird, also etwa in ihrer stärkeren Orientierung auf Performanz und ihrer schriftlichen Nachbildung des gesprochenen Wortes, kann die Lyrik als Tradition des Schreibens vor ihrem realen Überflüssigwerden bewahrt werden. Bis auf zwei Fälle(11) wird Lyrik in den Schulbüchern nicht in ihrer medialen Darstellungsform thematisiert, es sei denn als Deklamieren und Auswendiglernen von Texten, zwei Formen von Performanz, die sicherlich nicht ohne Berechtigung sind, aber dringlicher Erneuerung bedürfen und letztlich als bloß zwei unter unzähligen Darstellungsweisen von Lyrik erscheinen sollten.
Darüber hinaus haben wir bereits in der Einleitung argumentiert, dass Lyrik immer auch einen Raum der Andersheit bzw. einen Überschuss an Perspektiven generiert, die sich einer eindeutigen historischen, ontologischen oder universalistischen Deutung entziehen und somit einen Raum radikaler Pluralität öffnen, in welchem der Zwang zum Konsens aufgehoben wird. Lyrik ist ein Ort alternativer Narrationen vom Selbst, ein Labor neuer Perspektiven und eine Arbeit an den Grenzen des Sagbaren. Die Modi, die unser Bewusstsein generieren, werden in der Lyrik der Reflektion zugänglich gemacht. Diese Offenheit der Lyrik lässt sich aber nur anhand eines veränderten Verständnisses von dem erreichen, was den Kanon der untersuchten Schulbücher ausmacht. Die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts wie auch die gegenwärtige Lyrik bieten sich zur Betonung dieser kritisch-prozessualen Perspektive an. Ausgestattet mit dem passenden didaktischen Konzept kann Lyrik als Ort kreativen und pluralen Denkens jenseits vorgefertigter Bahnen den Schüler_innen zugänglich gemacht werden.
Bei der Durchsicht der deutschlandweit am häufigsten verwendeten Deutschbücher für die 10. Klasse wurde schnell deutlich, dass sich seit unserer Schulzeit an der Lyrikvermittlung im Unterricht wenig geändert hat. Weder werden der klassische Kanon und die darin enthaltenen Geschichts- und Sprachbilder in ihrer Bedeutung für unsere Gegenwart reflektiert, noch wird das lyrische Verfahren als Raum der Pluralität und Differenz für eine Demokratiebildung der Schüler_innen ernst genommen. Vielmehr verbleibt die Bearbeitung von Lyrik in einer nahezu bezugslosen historistischen Betrachtung, Ebenen der Medialität (Performanz, Buchdruck, Internet, etc.) bleiben weitgehend ausgeblendet und die Avantgarden des 20. Jahrhunderts sowie die gesamte gegenwärtige Lyrik sind als bedeutende Teilbereiche eines vorstellbaren Kanons nahezu abwesend.
Anregungen für den Unterricht
Als Ergebnis der skizzierten Problemstellung formulieren wir folgend unsere Vorschläge für eine alternative Arbeit mit Lyrik im Deutschunterricht. Dabei kann im Falle der Medialität an Elemente angeknüpft werden, die in manchen Schulbüchern bereits enthalten sind. So wird der Aspekt der Performanz in zwei Büchern am Beispiel des Poetry Slam aufgegriffen.(12) Diese Bezugnahme hat sich auch in unserer eigenen Arbeit zur Lyrikvermittlung als besonders geeignet erwiesen, junge Menschen an Lyrik heranzuführen. Die inhaltlich-historisch-etymologische Verbindung von Slam zum antiken gesungenen Vortrag (Lyrik = die zum Spiel der Lyra gehörende Dichtung) bietet sich hier an. Gleichzeitig ist mit dem Slam auch der Punkt fehlender Ebenen der Medialität angesprochen. Neben der Bezugnahme auf Slam als Präsentationsform können weitere Formen der Medialität angesprochen werden: Theater, Musik, Performance im öffentlichen Raum, S-Bahn-Gedichte, Poetryclips, Filme etc. (die Möglichkeiten sind hier sehr vielfältig und können einfach recherchiert werden; einleitend sei hier nur auf das umfassende Archiv von Lesungs- und Performance-Aufnahmen zeitgenössischer Dichter_innen auf www.lyrikline.org hingewiesen).
Lyrik als Raum der Pluralität und der Andersheit reflektiert nicht nur die Subjektivität des Autors in ihrem Zugang zur Welt, sondern kann unsere Wahrnehmung auch transformieren. Eine mögliche Übung für diese Perspektivenvielfalt wäre die Behandlung dreier Gedichte zu einem „Thema“, die in ihrer Behandlung formal und perspektivisch stark voneinander abweichen (z.B. Liebe, Krieg, Zimmer, Stadt, etc.). Eine weitere didaktische Möglichkeit böte sich in der Betrachtung surrealistischer Bilder unter Bezugnahme auf den „ambivalenten Blick“ an (eine Verbindung mit der Kindersendung „Löwenzahn“ und dem Sendungsteil „Was ist das“, in dem ein Foto von nahem betrachtet und dann langsam verkleinert wird, könnte hier je nach Klassenstufe zu einer didaktischen Auflockerung des Unterrichts führen). Insgesamt sollte die Methodik zur Bewusstmachung der Perspektivenvielfalt einen spielerischen Zugang wählen, der den Jugendlichen aber einen ernst gemeinten Eindruck von Vielfalt und Möglichkeiten zur Perspektive vermittelt. Die Einbindung zeitgenössischer Lyrik sehen wir hierbei nicht nur als einen Beitrag zur Vollständigkeit, sondern als einen wesentlichen Ansatzpunkt zur Reflektion gegenwärtiger Problemlagen.
Der letzte Vorschlag bezieht sich auf die Verbindung von Lyrik und Geschichtsschreibung, die bisher nur unzureichend in den Schulbüchern verarbeitet wird. Wie bereits beschrieben, ginge es in einer angemessenen Behandlung des Historischen in Bezug auf deutsche Lyrik um zweierlei: Die Reflektion der Bedeutung von Lyrik für Geschichte und deutsche Subjektivität einerseits sowie die Bedeutung dieser Geschichte für die Schüler_innen heute andererseits. Eine mögliche Übung für diese Verbindung wäre, die Schüler_innen ihre primären Assoziationen zu einem Thema der Romantik (Natur, Liebe) aufschreiben zu lassen. Anschließend würden einige Gedichte aus der Romantik vorgestellt, die das entsprechende Thema behandeln. Die gesammelten Eindrücke werden sich nicht nur überschneiden, sondern ein Tableau romantischer Vorstellungen erzeugen (dabei wären die Assoziationen von Schüler_innen mit einer anderen kulturellen Bildung eine wichtige Bereicherung, die den deutschen Kulturkanon perspektiviert und in einen Kontext der eigenen Geschichte stellt). Dieses Tableau würde dann als Beispiel für eine bis in die Gegenwart reichende Wirkung romantischer Texte auf unsere Vorstellungen von Liebe und Natur dienen. Bei Bedarf und Möglichkeit könnte diese Einsicht erweitert werden um die Frage, wie uns Werbung, Filme, Musik in unserer Selbstwahrnehmung, unseren Träumen und Erwartungen strukturieren. Neben dieser Verbindung, die am Anfang einer Übung zur Lyrik stehen sollte, um ihre Relevanz für die Schüler_innen zu unterstreichen, müsste auch eine angemessene historische Einbettung der Romantik in die deutsche Geschichte in Form eines Lehrerinputs erfolgen (siehe oben). Eine solche Arbeit ist nicht angenehm, denn sie verunsichert ein deutsches Nachkriegsnarrativ des Andersseins in Bezug auf die jüngere Geschichte; es ist aber unsere Überzeugung, dass der Schulunterricht gerade darum auch die Kontinuitäten unserer imaginativen und assoziativen Welten zur deutschen Vergangenheit in ihren problematischen Aspekten beleuchten sollte, weil sie bis heute nichts von ihrer Relevanz eingebüßt haben. In Bezug auf dieser Fragestellung ist die Lyrik ein Ort der Ambivalenz: Sie steht am Anfang dieser Tradition und teilt ihre Abgründe und öffnet gleichzeitig im Lesen wie in ihrer Praxis Perspektiven und Denkräume, die diese Abgründe überbrücken helfen können.
G13. ist ein Berliner Lyrikkollektiv, das 2009 ins Leben gerufen wurde. Die Mitglieder, geboren zwischen ’80 und ’90, präsentieren und diskutieren in regelmäßigen Treffen neue Gedichte, veranstalten gemeinsam Lesungen sowie Workshops zur Förderung junger Schreibender. Die von G13 alle zwei Wochen ausgerichteten Lyrikabende stehen allen Interessierten offen. Dieser Blog bietet ein Forum fürs weitere Besprechen der Texte.
Fußnoten
1 Für eine Übersicht über die analysierten Schulbücher siehe Literaturverzeichnis.
2 Die Mitglieder des Lyrikkollektivs G13 kommen aus allen Teilen Deutschlands, sodass eine Repräsentativität des Eindrucks über die Grenzen der Berliner Bildungspolitik hinaus gegeben ist.
3 In den analysierten Büchern finden sich lediglich 14 von 172 Gedichten, die nicht älter als 30 Jahre sind, und nur sieben, die nach 1990 entstanden sind, allein vier davon in einem Buch (Schurf et al. 2009).
4 Bleier-Staudt al 2007, S. 46.
5 Hein et al. 2004, S. 55-74; Aleker et al. 2009, S. 160-175; Notzen et al. 2008, S. 122-137.
6 Langer et al. 2003, S. 313.
7 Ewald-Spiller et al. 2007, S.160; Langer et al. 2003, S. 313.
8 Ewald-Spiller et al. 2007, S. 166ff , S. 303; Notzen et al. 2008, Seite 121ff; Bleier-Staudt et al. 2007, S. 66.
9 Langer et al. 2003, S. 17 ff.
10 Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 238, hrsg. v. Otto Schönberger, Stuttgart 2002.
11 Schurf et al. 2009, S.262-264; Aleker et al. 2009, S.196-199.
12 Schurf et al. 2009, S.262ff; Ewald-Spiller et al. 2007, S. 164.
Literaturverzeichnis
Die vorliegende Analyse bezieht sich auf folgende Schulbücher für die Jahrgangsstufe 10:
- Aleker, Wolfgang; Krebsbach, Kirsten (Hg.) (2009): Blickfeld Deutsch 6, Paderborn: Schöningh Verlag.
- Bleier-Staudt, Elke; Bothe, Katrin; Lange, Günther, Meyer-Bothling, Jörg Ulrich; Schnierle-Lutz, Herbert; Schröer, Karin; Thürmann, Eike; Waldmann, Günther (Hg.) (2007): Unterwegs 6. Lese-und Arbeitsbuch, Stuttgart: Ernst Klett Verlag.
- Ewald-Spiller, Ulla; Frauenknecht Heike; Geiger, Martina; Graf, Günther; Harst, Winfried; Mühle-Bohlen, Frauke; Phillips, Harald; Stammel, Hans (Hg.) (2007): deutsch ideen. Lese- und Sprachbuch, Braunschweig: Schroedel.
- Franke, Claudia; Gansel, Christina; Glathe, Ute; Höhmann, Christiane; Mittag, Karla; Potowski, Angela; Steininger, Regina; hrsg. von Gansel, Carsten; Jürgens, Frank; Rose, Kurt (Hg.) (2009): Deutsch Plus Klasse 10, Berlin: Cornelsen Verlag.
- Fuchs, Maria; Herzog, Harald; Menzel, Wolfgang; Nußbaum, Regina; Sassen, Ursula (Hg.) (2004): Praxis Sprache und Literatur, Braunschweig: Westermann Verlag.
- Hein, Siegfried; Kluge, Gerhard; Schrey, Dieter; Steinbach, Dieter; Weinmann, Siegfried; Wetzel, Hans; Wittenberg, Hildegard (Hg.) (2004): Lesezeichen, Leipzig: Ernst Klett Verlag.
- Langer, Klaus; Steinberg, Sven (Hg.) (2003): Deutsche Dichtung. Literaturgeschichte in Beispielen, München: Bayerischer Schulbuchverlag.
- Notzen, Konrad; Schrey, Dieter (Hg.) (2008): Verstehen und Gestalten G6, München: Oldenbourg Verlag.
- Notzen, Konrad; Schrey, Dieter (Hg.) (2008): Verstehen und Gestalten H10, München: Oldenbourg Verlag.
- Schurf, Bernd; Wagener, Andrea (Hg.) (2009): Deutschbuch 10. Texte Themen und Strukturen, Berlin: Cornelsen Verlag.