Warum heute Lyrik – Artur Nickel

Gedankensplitter

Lyrik heute ist ein Feind von Geplapper und Geschwätz. Sie sucht das Unverwechselbare, das Authentische, den individuellen Ausdruck. Sie zerschlägt Sprechblasen, Stereotype, Festgefügtes. Sie konzentriert sich sprachlich auf kleine Zusammenhänge, um diese möglichst präzise zu fassen und den Blick zu schärfen. Denn schon darin schlummern Welten. Man muss nur genau hinschauen.
Lyrik heute stellt sich unserer Wirklichkeit, indem sie realistisch ist oder indem sie Gegenwelten entwirft. Auf diese Weise schafft sie Freiräume, die der Auseinandersetzung mit dem Wirklichen zugute kommen. Schaut man sich diese Wirklichkeit genauer an, so ist festzustellen, dass sie sich im neuen Jahrtausend grundlegend geändert hat und weiter ändert. Mehr denn je stürmen Wirklichkeitspartikel auf uns ein und nehmen uns gefangen. Was früher einmal weit weg war, ist heute gleich nebenan. Was früher wie ein Ganzes erschien, ist heute ein Fetzen, ein Nichts. Die zunehmende Vernetzung und die Globalisierung zeitigen Folgen. Es ist eine Milchstraße von Partikeln, die uns bombardiert. Die Wanderungsbewegungen von Menschen, die Arbeit, ein besseres Leben oder einfach nur Schutz vor Hunger oder Verfolgung suchen, tun ein Übriges. Fremde Kulturen prallen unvermittelt aufeinander, weil sie keine Zeit mehr haben, sich aufeinander zuzubewegen und sich kennen zu lernen. Unsere Zeit ist schnell geworden, hektisch, so schnell wie niemals zuvor. Obwohl sie sich nach wie vor um sich selber dreht. Sie kommt nicht vorwärts, es sieht nur so aus. Stillstand zeigt sie an, eigentlich Rückschritt. Und noch immer gibt es ein Gefälle zwischen oben und unten, es ist nicht kleiner geworden, sondern größer. Allerdings sind die, die uns das Leben diktieren wollen, weitgehend in den Hintergrund getreten. Sie wollen ungestört schalten und walten und nicht bemerkt werden. Umso stärker ist der Druck, den sie auf uns ausüben, umso zerstörerischer das, was sie anrichten. Eine neue Herausforderung. Auch für die Lyrik.
Lyrik heute ist eine Möglichkeit, sich selbst auszudrücken, die eigene Befindlichkeit darzustellen und sich mit der eigenen Realität auseinanderzusetzen. Gleichzeitig ist sie aber auch eine Möglichkeit, als Kontrapunkt eine Gegenwelt zum real Gegebenen aufzubauen, aus der man dann später wieder zurückkehrt. Sie bringt die Dinge in Bewegung, die festgefügt und vernagelt sind. Und so nennt Lyrik heute das beim Namen, was uns und unsere Welt zerstört, versucht sie das zu fassen, was dahinter steckt. Sie beschreibt, ergründet und erfasst, was tatsächlich wirklich ist. Nicht nur das Vordergründige ist ihr wichtig, auch das dahinter Stehende, das, was in letzter Konsequenz bezweckt wird. Sie legt den Finger auf die Wunde und ruht nicht, bis sie erreicht hat, was sie will. Dazu lotet sie die Spielräume aus, die zwischen unseren Wortgerüsten sind. Sie steckt immer wieder neu die Bedeutungskreise ab und benennt die Schnittmengen. Sie legt (sich), das Erreichte reflektierend, fest. Das geschieht konkret und einfühlsam denen gegenüber, die in unserer Welt keine Chance haben. Es geschieht schonungslos und klar denen gegenüber, die ihnen diese Chance nicht geben.
Lyrik heute evoziert aber auch Entscheidungen, weil sie den Schreiber wie den Leser dazu auffordert, Stellung zu beziehen. Sie sollen an dem Dargestellten Teil haben, Anteil nehmen, sich mit ihm auseinandersetzen. Kurz gesagt: Lyrik heute stellt sie, setzt sie in Bewegung, (ent-) scheidet. Das kann wehtun, manchmal aber auch geradezu befreiend sein. Auf diese Weise wird sie, ohne ideologisch zu werden, zu einem moralischen Kompass, der modern und unmodern zugleich ist. Modern ist sie, weil sie einen aufklärerischen Impetus in sich trägt und den Einzelnen tatsächlich ernst nimmt. Unmodern, weil sie unbequem ist und deutlich macht, wie unmündig wir eigentlich noch immer sind. Selbst verschuldet. Ohne Wenn und Aber. Allen gegenteiligen Beteuerungen und Beschwichtigungen zum Trotz.
Mehr als anderen literarischen Gattungen wohnt Lyrik heute außerdem auch ein gestaltendes Moment inne, und zwar bis in den einzelnen sprachlichen Ausdruck hinein. Sie entdeckt neue Inhalte, neue Zusammenhänge, indem sie die Wortkarten neu mischt, ja, sie neu zuschneidet und bis in die einzelnen Vokale und Konsonanten hinein neu zusammensetzt. Sie hat eine doppelte Funktion: Sie bringt die Dinge auf den Punkt und entwickelt zugleich Fantasieräume. Sprachnorm war gestern, auch wenn Lyrik heute (literarische) Traditionen nicht einfach über Bord wirft. Aber Vergangenes zu verstehen ist das eine, Gegenwärtiges und Zukünftiges zu gestalten, das andere. Und letzteres ist ein zentrales Ziel von Lyrik heute. Dabei setzt sie im Kleinen an, weil das Kleine das (Vor-) Bild für das Größere ist. Dadurch wirkt Lyrik heute selbst im persönlichsten, privatesten Ausdruck politisch. Seine eigene Sprache zu finden und auszugestalten, heißt, sich sprachlich an die eigene Hand zu nehmen und sich einzubringen. Wer da anfängt, der fängt auch sonstwo an und engagiert sich.
Lyrik heute setzt sich immer auch mit den kulturellen Ideen und Erfahrungen anderer auseinander, egal, wo sie herkommen und zu Hause sind. Sie stellt sich ihnen, um von ihnen zu lernen und für den eigenen Weg Schlussfolgerungen zu ziehen. Schließlich eröffnen sich für sie durch sie neue Möglichkeiten, das auszudrücken, was ihr wichtig ist. Kunst und Kultur sind an sich grundsätzlich interkulturell angelegt, Lyrik heute ist dies insbesondere. So kann sie eine Vorreiterrolle übernehmen und Brücken bauen.
Warum also heute Lyrik? Lyrik heute betont oft genug genau das, was uns und unserer Gesellschaft verloren geht oder fehlt. Ja, sie steht vielfach uns und unserer Gesellschaft gegenüber und hält uns ihren Kehrspiegel vor. Wie nehmen wir unsere Wirklichkeit wahr? Wie positionieren wir uns in ihr? Wie engagieren wir uns (sprachlich), um sie zu gestalten, allen Widernissen zum Trotz? Finden wir da den Grund, warum heute viele still ihre Gedichte schreiben und sie kaum einer liest? Den Grund, warum sich viele ins Private zurückziehen und sich selbst und ihren Mitmenschen aus dem Wege gehen? Den Grund, warum sich viele so wenig auf die interkulturelle gestalterische Kraft von Sprache einlassen? Schon Hilde Domin hat von den programmgerecht funktionierenden Menschen gesprochen, die nur noch auf Störungen ihres Konsums reagieren würden, von Halb- und Dreivierteltoten, die nur noch als Puppen einhergingen. Ihnen stünden diejenigen gegenüber, die Lyrik schreiben oder lesen würden. Dieser Prozess der Entmenschlichung, den sie schon in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts angeprangert hat, hat sich beschleunigt, ja, er hat inzwischen sogar neue Dimensionen erreicht. Er ist es, der uns kirre macht und dem Lyrik entgegentritt. Lyrik heute. Lyrik, die gut ist. Nicht mehr und nicht weniger.

Aus: Artur Nickel: farbgespnste flussabwärts. Gedichte, Geest-Verlag, Vechta 2012, S. 107 – 116.


 

Artur Nickel (*1955 in Maburg an der Lahn) studierte in Tübingendie Fächer Germanistik und Evangelische Theologie. In dieser Zeit  hat er sich auch in der Anti-Kernkraftbewegung engagiert und erste Gedichte veröffentlicht. Nach dem ersten Staatsexamen hat Artur Nickel mit einer Arbeit über Hans Werner Richter und die Gruppe 47 in Tübingen promoviert. Seit 1986 arbeitet er als Lehrer, seit 1991  an der Erich Kästner-Gesamtschule in Essen.
Dort gründete er im Jahre 2000 das „EssenerKulturGespräch“, ein Forum, das Kindern und  Jugendlichen durch Ausstellungen, Lesungen, Theaterprojekte und andere Veranstaltungen ein Podium gibt, sich mit Kunst und Kultur auseinander zu setzen. Zwei der in diesem Rahmen durchgeführten Projekte, die von ihm gegründete Essener Autorenschule sowie das von Peter Gutsche geleitete Buchprojekt „Gewichtsprobleme? Selbstaussagen zum Rassismus“ erhielten den Preis „kinderzumolymp“ ( 2005 und 2009 ). Dieser Preis wird jedes Jahr von der Deutschen Kulturstiftung der Länder und der Deutsche Bank Stiftung für die bundesweit besten Schulkulturprojekte ausgeschrieben.
Seit 2005 gibt Artur Nickel die Essener Anthologien heraus, zunächst gemeinsam mit Friederike Köster von der Lernwelt Essen, seit 2007 zusammen mit dem Sozialpsychologen Andreas Klink vom Kulturzentrum „Grend“ in Essen. Dabei handelt es sich um Sammelbände mit Texten von Kindern und Jugendlichen, die diese im Alter von 10 bis 20 Jahren zu bestimmten Themen geschrieben haben. Sie  sind weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt geworden.
Im Jahr 2008 erhielt Artur Nickel den Leserpreis für zeitgenössische Lyrik von der Gesellschaft der Lyrikfreunde (Innsbruck). Im gleichen Jahr erschien auch sein erster Gedichtband „brückenspiele“. Immer wieder werden von ihm literarische und andere Beiträge in Zeitschriften und Anthologien publiziert.