Zu „Gedanken Zerren“ von Özlem Özgül Dündar – Anton W.

In unserer heutigen Zeit ist das Ansehen für Lyrik stark gesunken. Ich meine, wer liest heutzutage noch eine Gedichtsammlung? Lieber lesen die Leute einen guten, spannenden Roman, der davon handelt, wie eine Prostituierte sich durchs Leben schlagen muss. Das Leseinteresse hat sich stark gewandelt, der Blick richtet sich mehr auf das große Ganze als auf die Details. So geraten Gedichte und Poesie immer mehr in Vergessenheit und genau das muss verhindert werden. Aus diesem Grund beschäftigen wir uns heute mit der Gedichtsammlung „Gedanken Zerren“ von Özlem Özgül Dündar.

„Gedanken Zerren“, verfasst 2019 von Özlem Özgül Dündar, ist eine Sammlung von vorwiegend nachdenklichen Gedichten und Themen. Das Buch besitzt 56 Seiten mit 42 Gedichten, wobei ein Gedicht jeweils eine Seite einnimmt. Zwischen den Seiten stehen gelegentlich kurze Sätze wie z.B. „wenn ich mich dir antaste“ oder „wenn ich n gehöre“. Auf dem Cover der Sammlung ist eine Hälfte eines Gesichts einer weiblichen Person abgebildet, die etwas betroffen nach unten blickt.
Zur näheren Betrachtung dieser Gedichtsammlung untersuchen wir das lyrische Werk „so sagt man“, zu finden auf Seite 33, etwas genauer.

Noch ist stille bei mir die still
e wie man sagt vor dem stu
rm u wenn du kommst u du
durchstreifst landschaften von
dir u mir u du wirbelst sie im
sturm u du reißt sie u zersp
litterst sie in stücke von dir u
mir u unsere körper zerspli
ttern u du durchstreifst lands
chaften u während du durchs
treifst u umwirbelst unsere s
tücke dich umwirbeln streifen
n landschaften von uns ab ab
er noch splittern wir n noch
ist stille bei mir die vor dem
sturm so sagt man

Das Gedicht „so sagt man“, verfasst 2019 (laut dem Veröffentlichungsjahr der Gedichtsammlung) thematisiert die Unruhe und das Chaos, die auftreten, wenn sich eine bestimmte Person in der Nähe des lyrischen Sprechers befindet. Deuten ließe sich das Gedicht als Mutter-Kind- bzw. Vater-Kind-Beziehung. Die Mutter und der Vater sind ruhig, bis das Kind auftritt und Chaos schafft. Dieses Szenario kann allerdings auch bei zwei sich liebenden Erwachsenen auftreten.

Formal gliedert sich das Gedicht in eine 16-zeilige strophen-und reimlose Form. Es ist kein festes Metrum vorhanden. Auffällig sind die in jedem Vers auftretenden Enjambements, sowie Wiederholungen (z.B. „durchstreifst Landschaften“). Flagrant ist weiterhin die Tatsache, dass die Autorin einzelne Buchstaben als Worte interpretieren lässt. So ist z.B. der Buchstabe „u“, das Wort „und“, der Buchstabe „n“ hingegen „nun“. Dies bereitet zu Beginn noch große Leseschwierigkeiten, die sich allerdings mit wachsendem Verständnis für die Gedichte legen. Um das Gedicht überhaupt erst einmal zu lesen, ist es also notwendig, sich über das Druckbild Gedanken zu machen, was eine kluge Idee und Strategie Dündars darstellt, die Gedichte für den Leser interessant zu gestalten.

Innerhalb des Gedichts lassen sich außerdem viele sprachlich-stilistische Mittel wiederfinden. Am häufigsten vertreten sind hierbei die Wiederholung, der Parallelismus oder die Synekdoche. Zu finden sind sie z.B. in den Versen 11, 12 oder 17. Die Verwendung dieser Mittel soll in diesen Fällen vor allem die Eindringlichkeit und das bessere Verständnis der aufgeworfenen Situation verstärken und damit die zwischenmenschliche Beziehung betonen. Das Gedicht im Allgemeinen lässt sich, wie vorhin bereits erwähnt, auf viele unterschiedliche Art und Weisen interpretieren. Im Grunde geht es darum, dass ein Chaos nach einer ruhigen Zeit eintritt. Dies lässt sich auf eine Beziehung zwischen zwei Menschen zurückführen, keine Frage, allerdings ist das bei weitem nicht die einzige Möglichkeit, dieses Gedicht zu deuten. Die Variante mit der menschlichen Beziehung ist aber die simpelste.

Abschließend kann ich festhalten, dass die vorliegende Gedichtsammlung eine für den geschulten Leser ist. Begründen lässt sich diese Feststellung durch die sprachlichen Besonderheiten („u“, „n“) und auch den formalen Aufbau, bei dem einzelne Wörter nicht nach der üblichen Norm abgekürzt und getrennt wurden (z.B. „stu-rm“). Diese Auffälligkeiten kommen in so ziemlich jedem Gedicht vor. Wer sich entscheidet diesen Band käuflich zu erwerben, kann mit sehr tiefgründigen und sinnigen Gedichten rechnen, die die Gedanken eher anstrengen als sie zu entspannen, daher erfordert dieses Buch Konzentration und Nachdenklichkeit. Für Personen, die genau so eine Gedichtsammlung suchen, kann ich diese nur empfehlen.